Poetik und Kritik der Nachübersetzung
Zu ihrer Verdeutschung von Becketts Gedichten in einem schmalen Band der Bibliothek Suhrkamp merkt Barbara Köhler im Kolophon lakonisch an, sie habe als Übersetzerin «nicht zu danken». Damit setzt sie sich dezidiert und unnötig provokant über die (durchaus diskutable) Vorarbeit der Erstübersetzer hinweg, nämlich jene von Karl Krolow und Elmar Tophoven, die im selben Verlag vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren unterm Titel «Flötentöne» erschienen ist. Mit ihrem – soweit ich sehe – singulärenEmanzipationsakt macht die Nachübersetzerin deutlich, dass sie jede Übersetzung für eine auktoriale Setzung hält und dass sie demzufolge als souveräne Verfasserin des von ihr übersetzten Texts gelten will. Denn wer niemandem zu danken hat und dies auch noch explizit ausspricht, unterstreicht damit seinen Anspruch auf Erstmaligkeit und Originalität, das heisst auf Eigenständigkeit in einem Leistungsbereich,der gemeinhin als sekundär eingestuft wird – Übersetzung als Dienst am Original, der Übersetzer als Diener des Autors.
Wenn nun der Diener zum Herrn, der Übersetzer zum Autor befördert wird, ist das ein bedenkenswerter Ansatz, der allerdings zu begründen wäre und durch die übersetzerische Arbeit am Text gerechtfertigt sein sollte. Weder das eine noch das andre wird von Köhler eingelöst, und mehr – oder weniger? – als dies: ihre Übersetzung ist offenkundig, wenn auch durchweg ex negativo an Krolow/Tophoven orientiert. Das hat seine Richtigkeit und entspricht ja auch dem bei Nachübersetzungen üblichen Verfahren. Das Übersetzen ist in dieser Hinsicht dem literarischen Schreiben analog. So wie jedes Schreiben – in allerdingsunterschiedlichem Ausmass – als Nachschrift fremder Texte praktiziert wird, kann auch das Übersetzen als ein Nachschreiben begriffen werden, ein rewriting, das im Sonderfall der Nachübersetzung nicht nur zwischensprachlich, sondern auch innersprachlich vor sich geht. Der kaum vermeidliche, zumeist kaschierte Rückgriff auf diese oder jene Vorlage muss in einem produktiven Spannungsverhältnis stehen zu den nachgetragenen Korrekturen und Supplementen, auf die das Neue, das Eigene der Nachübersetzung letztlich beschränkt bleibt.
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Das Nachübersetzen literarischer Texte hat seit geraumer Zeit Hochkonjunktur. Nicht nur zahlreiche Werke aus dem kanonischen Fundus der Weltliteratur (darunter Shakespeares „Sonette“, Melvilles „Moby Dick“, die Versdichtungen Puschkins und die späten Romane Dostojewskijs), sondern auch manche Klassiker der europäischen Moderne wie Yeats, Eliot, Lorca, Belyj, Pasternak, Svevo, Ungaretti u.a.m. sind in den vergangenen Jahren in neuer deutschsprachiger Fassung erschienen. Allein von Henry Fieldings Monumentalroman „Tom Jones“ gibt es aus den vergangenen Jahren drei vollständige Neuübersetzungen, und bereits werden auch zeitgenössische Autoren wie Andrej Bitow oder Wenedikt Jerofejew nachübersetzt, was wohl darauf schliessen lässt, dass die Halbwertzeit literarischer Übersetzungen neuerdings drastisch im Sinken ist.
Diese zum Trend gewordene Tendenz kann zweierlei Gründe haben. Entweder geht es darum, bereits vorliegende Übersetzungen philologisch auf Fehler oder Auslassungen im Text zu überprüfen, sie also zu revidieren, oder es besteht das Bedürfnis nach weitergehender stilistischer Bereinigung beziehungsweise nach der Anpassung eingedeutschter Vorlagen an zeitgenössische Lektüreerwartungen. Beide Zugänge sind berechtigt, die jeweils angewandten Verfahren unterscheiden sich allerdings fundamental.
Während der philologische, vorab auf Korrektheit angelegte Zugang den Weg zurück zum fremdsprachigen Originaltext neu eröffnet und dessen inhaltliches Verständnis optimiert, führt der stilkritische Zugang in aller Regel über die Originalvorlage hinaus, nicht selten mit dem Anspruch, die Übersetzung als eigenständige Nachdichtung in der Zielsprache zu etablieren und dadurch, im Unterschied zum philologischen Übersetzer, auch einen literarischen Mehrwert zu schaffen. Im einen wie im andern Fall kommt den bereits vorhandenen Übersetzungen, unabhängig von ihrer Qualität, fast ebenso grosse Bedeutung zu wie den fremdsprachigen Originaltexten.
Jede Neuübersetzung ist eine Nachübersetzung, deren Berechtigung der Übersetzer durch seine Arbeit belegen muss. Nicht selten wird dieser Nachweis gleich schon auf der Ebene der Titelei geführt. Manche Nachübersetzer fühlen sich bemüssigt, durch die Neufassung der Werktitel, sei sie auch noch so minimal, ihre Eigenständigkeit zu unterstreichen. So legt Barbara Köhler ihren neuen Beckett mit dem Titel «Trötentöne» (für «Mirlitonnades») vor, was keineswegs die souveräne Emanzipation von Krolows «Flötentönen», vielmehr die Abhängigkeit davon dokumentiert, die hier durch einen parodistischen Touch zwar überspielt wird und gleichwohl auf die verdrängte Vorlage zurückverweist.
Diskreter verfährt in dieser Hinsicht der Nachübersetzer Ossip Mandelstams, der dem Lyrikbuch «Stein» und dem poetischen Essay über eine «Reise nach Armenien» je einen bestimmten Artikel verpasst, obzwar «Der Stein» und «Die Reise nach Armenien» dem originalen Wortsinn keineswegs entsprechen. Denn nicht dieser oder jener Stein als Objekt ist bei Mandelstam gemeint, sondern Stein generell als Material, vorab als Baumaterial, und dies in Analogie zur Verwendung von immer schon vorhandenem Sprachmaterial im Gedicht. Auch will der Autor in seinem Essay nicht eine datierbare Kaukasusreise beschreiben (das wäre bloss ein Reisebericht), vielmehr vergegenwärtigt er das Reisen in einem traditionsreichen Kulturraum, der ihm zugleich fremd und vertraut ist und den er, der politisch wie literarisch marginalisierte Sowjetautor, als ein gelobtes Land im eigentlichen Wortsinn «erfährt».
Wesentlich weiter geht, in Bezug auf die Titelgebung, der Nachübersetzer von Alessandro Manzonis «I promessi sposi», wenn er den seit langem eingebürgerten Titel «Die Verlobten» durch «Die Brautleute» ersetzt – eine Entscheidung, die ohne erkennbare Notwendigkeit über die völlig korrekte (und überdies auch klanglich dem originalen Wortlaut besser entsprechende) ältere Fassung hinweggeht, und dies zu Gunsten eines hölzernen Begriffs, der eher zu den verstaubten Papieren einer Pfarrei passt als zu einem hochromantischen Erzählwerk.
Noch eigenwilliger signalisiert Fjodor Dostojewskijs jüngste deutsche Nachdichterin ihren Anspruch auf übersetzerische Originalität, indem sie die gewohnten Werktitel, wo immer möglich, in völlig neuem Wortlaut wiedergibt. Diese Möglichkeit fehlt naturgemäss bei einem Titel wie «Die Brüder Karamasow», und auch «Der Idiot» lässt wenig Spielraum für Abweichungen oder Varianten, es sei denn, man wollte das Titelwort als Übernamen des Fürsten Myschkin verstehen, was den Artikel «der» überflüssig machen würde: «Idiot». Diese Variante wäre durchaus plausibel, ist bisher jedoch nicht zum Zug gekommen. - Rund ein Dutzend Mal ist Dostojewskijs philosophischer Kriminalroman „Schuld und Sühne“ bislangins Deutsche gebracht worden, doch keiner der Übersetzer hat sich je dazu entschliessen können, die Titelbegriffe in schlichter Wörtlichkeit wiederzugeben, nämlich als „Verbrechen und Strafe“.
Die Nachübersetzerin brauchte in diesem Fall – statt auktorialen Eigensinn walten zu lassen – lediglich aufs Wörterbuch zurückzugreifen, um ihre Distanznahme zu früheren Eindeutschungen deutlich zu machen. Noch hat sich allerdings der neue Titel nicht eingebürgert, seine philologisch korrekte Fassung als „Verbrechen und Strafe“ ist rhythmisch weniger einprägsam und wirkt überdies zu vordergründig, zu prosaisch für die frenetisch vorgetragene Geschichte eines intellektuellen Gesinnungstäters, der aus angeblich humanitären Gründen einen Raubmord begeht, danach gefasst und verurteilt wird und schliesslich hochgemut mit dem Evangelium in der Tasche nach Sibirien ins Straflager zieht, um seine Bluttat abzugelten – eine Geschichte, in der es tatsächlich viel mehr um Schuld und Sühne geht als bloss um ein Verbrechen und dessen juristische Abarbeitung. Hier liegt also eins der seltenen Beispiele dafür vor, dass eine freie Titelübersetzung mit interpretativer Vorgabe dem Text in der Zielsprache besser entspricht als die wörtliche Wiedergabe.
Im Rahmen der neuen Nachübersetzung von Dostojewskijs grossen Romanen liegen beim Ammann Verlag «Die Dämonen» neuerdings unter dem Titel «Böse Geister» vor, eine Fassung, die kaum zu rechtfertigen, wenn nicht gar irreführend ist, da in diesem Werk keineswegs von irgendwelchen volatilen Erscheinungen die Rede ist, sondern von realen, «teuflisch» denkenden und handelnden Personen, zu denen es eindeutig bestimmbare historische Prototypen gibt. Auch dem Wortlaut nach, also klanglich und rhtyhmisch ist der Titel «Böse Geister» von der russischen Vorlage («Besy») weit entfernt; er wirkt durch Überdehnung allzu explikativ, ist eher eine (zweifelhafte) Interpretation denn eine adäquate Übersetzung und vermag die guten alten «Dämonen» in keiner Weise zu ersetzen.
Dies gilt ebenso für den jüngst in Nachübersetzung erschienenen Roman «Ein grüner Junge», den man bislang vorab als «Der Jüngling» kannte. Der neue, aus drei Wörtern bestehende redensartliche Titel geht weit über das hinaus, was Dostojewskij mit dem einen russischen Titelwort «Podrostok», das schlicht einen «Heranwachsenden» oder „Halbwüchsigen“ bezeichnet, neutral benannt hat. Da dieser junge Mann zugleich als Erzähler und Protagonist der langwierigen, komplex gebauten Geschichte fungiert, kann er sicherlich nicht als «ein grüner Junge» gelten, der in deutschem Verständnis noch ein Knabe und jedenfalls ein naives oder unbedarftes Jüngelchen wäre. Auf Dostojewskijs jugendlichen Helden trifft dies in keiner Weise zu, und es ist nicht einzusehen, weshalb für die neue Übersetzung ein neuer Titel gewählt werden musste, der im übrigen durch den unbestimmten Artikel – warum „ein“ Junge? wo es doch um einen klar bestimmten Jungen geht! - zusätzlich verfremdet wird. Auch hier drängt sich die Vermutung auf, dass die Nachübersetzung durch die vom Original wie von den bisherigen Übersetzungen auffallend abweichende Titelgebung als eigenständige Leistung ausgewiesen werden soll. Ein Gewinn gegenüber früheren Übersetzungen ergibt sich daraus aber nicht.
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Wer nachübersetzt, provoziert naturgemäss den Vergleich mit jenen früheren Übersetzungen, die er für korrekturbedürftig hält. Von neu übersetzten Texten erwartet man gemeinhin, dass sie ältere Fassungen ersetzen, weil sie „besser“ sind als diese – „genauer“, „leichter lesbar“, „poetischer“, „moderner“, „eleganter“ u.ä.m. Für den Nachübersetzer wiederum können derartige Erwartungen zur Belastung werden, in vielen Fällen hindern sie ihn daran, exzellente Lösungen seiner Vorgänger zu übernehmen, denn wer neu übersetzt, lässt sich ungern als Nachübersetzer bezeichnen und wird alles dafür tun, seineKompetenz und Überlegenheit unter Beweis zu stellen.
Namentlich anhand von Paul Celans einflussreichen dichterischen Übertragungen oder, generell, von Shakespeares eingedeutschten Sonetten liesse sich zeigen, wie spätere Übersetzer um bereits vorliegendeFassungen gleichsam herumgedichtet haben – bloss um Übereinstimmungen zu vermeiden und selbst um den Preis, hinter ihren Wegbereitern zurückzubleiben. Die jüngsten Neuübersetzungen von Mallarmé, Mandelstam, Beckett oder Wenjamin Jerofejew bieten dafür reichlich Anschauungsmaterial, und man könnte, man sollte sich vielleicht doch einmal die Frage stellen, ob das umgekehrte Verfahren nicht um vieles produktiver wäre, nämlich die systematische Abfrage bereits vorliegender Übersetzungen nach brauchbaren, wenn nicht sogar optimalen Lösungen und deren Wiederverwertung für immer wieder neue, das heisst erneuerte Nachübersetzungen.
Die Daueraufgabe des literarischen Übersetzens wäre demnach als permanentes Recycling zu praktizieren. Jeder Nachübersetzer müsste sich für seine Arbeit dadurch rechtfertigen, dass er aus früheren Übersetzungen jeweils die besten Stücke unverändert beibehält und nur dort eingreift oder Eigenes beiträgt, wo Verbesserungen tatsächlich möglich, mithin auch nötig sind. - Der Nachübersetzer ist in jedem Fall Mitübersetzer, doch statt sich positiv auf seine Vorgänger und Vorlagen beziehen, setzt er sich gemeinhin polemisch davon ab, um die eigene Arbeit aufzuwerten. Dennoch ist festzustellen, dass manch eine ambitionierte Nachübersetzung (die ja stets als Neuübersetzung zu gelten beansprucht) hinter den Texten, die sie zu ersetzen vorgibt, zurückbleibt.
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An dieser Stelle sei kurz an den „Fall Hatto“ erinnert, der vor einiger Zeit als Skandalon unter Musikern und Musikkritikern viel zu reden gab. Der britische Toningenieur William Barrington-Coupe hatte ab 1989 in seinem Label „Concert Artist Records“ weit über einhundert CD-Aufnahmen mit Klavierkonzerten und -rezitalen unter dem Namen seiner Frau Joyce Hatto publiziert, einer kaum bekannten Pianistin, die in der Folge weithin – auch in der Fachpresse - als grosse, wenn nicht als „die grösste“ Virtuosin ihres Fachs belobigt wurde. Mehr als fünfzehn Jahre hat es gedauert, bis man herausfand, dass die Aufnahmen durchweg gefälscht waren: Barrington-Coupe hatte zahlreiche Produktionen anderer Pianisten übernommen und tontechnisch bearbeitet, wobei er Tempi und Klangfarbe minimal modifizierte, um für die Hatto einen eigenen interpretatorischen Personalstil zu entwickeln. Bevor er, durchaus zu Recht auf die Inkompetenz der Kritik vertrauend, ganze Stücke aus fremden Aufnahmen abkupferte, pflegte er private Einspielungen seiner Frau passagenweise mit andern Interpretationen zusammenzuschneiden, so dass ein ingeniös ausgewogenes Patchwork aus eigenen und fremden Elementen entstand, welches der Pianistin den Ruf einbrachte, die „kompletteste“ aller lebenden Interpreten zu sein – von Bach bis Prokofjew schien sie die gesamte Klavierliteratur auf höchstem spielerischen Niveau zu beherrschen. Man darf dem findigen Tonmeister, bei aller Perfidie seiner langjährigen Betrügereien, zumindest guten Geschmack attestieren und ihn dazu beglückwünschen, die meinungsbildende Musikkritik tatsächlich „überspielt“ zu haben.
Ich rücke diesen Hinweis hier deshalb ein, weil ich den „Fall Hatto“ in Bezug auf literarisches Übersetzen für vorbildhaft halte. Vorbildhaft insofern, als in diesem Fall frühere Interpretationen – vergleichbar mit Übersetzungen - nicht ausgeblendet, sondern systematisch genutzt wurden, um zu immer besseren, schliesslich optimalen Einspielungen zu kommen. So stelle ich mir, beispielsweise, deutschsprachige Neuübersetzungen von Swifts „Gulliver“ oder Baudelaires „Fleurs du mal“, von Puschkins Erzählungen oder Stendhals Romanen vor, die kompiliert wären aus allen bisher vorliegenden Fassungen beziehungsweise aus den jeweils besten Passagen, aber auch ergänzt durch neue Versuche, den Texten optimal gerecht zu werden.
Denn auch Übersetzer haben – nicht anders als interpretierende Musiker – ihre feststellbaren, manchmal „typischen“ Stärken und Schwächen. Die Schwächen sollten beseitigt werden, die Stärken erhalten bleiben. Eine ideale, eine definitive literarische Übersetzung wird auch so nicht gelingen, wohl aber – man denke an den Wettlauf Achills mit der Schildkröte – die stetige Annäherung an eine letzte, nicht mehr überbietbare Textfassung in der Zielsprache.
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Doch zurück zu den Realien, zur Praxis des Nachübersetzens. Anhand eines aktuellen Beispiels will ich meine Überlegungen präzisieren. Von Emily Dickinson liegt seit kurzem eine umfassende, an Vollständigkeit grenzende Auswahl aus dem lyrischen Werk in zweisprachiger, chronologisch konzipierter Edition vor („Gedichte“, herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler, Carl Hanser Verlag, München 2006). - Der Verlag bewirbt den Band mit dem Hinweis, die amerikanische Dichterin habe „in Deutschland bisher als Geheimtip“ gegolten, was durch die Tatsache widerlegt ist, dass es von Emily Dickinson rund ein Dutzend Buchpublikationen in diversen deutschen Übersetzungen gibt, die zu einem guten Teil noch immer greifbar sind. - Auch bei dieser Nachübersetzung soll also offenkundig ausgeblendet werden, was andere, frühere Übersetzer zur Vermittlung und Erschliessung der Dickinsonschen Dichtung beigetragen haben.
Die Übersetzerin selbst charakterisiert ihr Eindeutschungsverfahren hochgemut als „eine zutiefstpersönliche Lektüre“ und setzt sich damit implizit von „bisherigen deutschen Dickinson-Übersetzern“ ab.Wenn sie als ihre hauptsächliche Übersetzungshilfe die amerikanische Sekundärliteratur nennt, ist daraus wohl abzuleiten, dass es ihr vorab um das Verständnis und die Vermittlung der dichterischen Aussage geht, und nicht um die adäquate Nachbildung der dichterischen Form. Vordergründig erweist sich dies schon an der Textoberfläche, darin nämlich, dass die eigenwillige Grossschreibung, mit der Emily Dickinson die im Englischen übliche Kleinschreibung konterkariert, in der Übersetzung ohne Not aufgegeben wird. Da die deutsche Orthographie Gross- und Kleinschreibung nach bestimmten Regeln unterscheidet, stellt sichdiesbezüglich für die Übersetzung naturgemäss ein Problem.
Dem wäre aber leicht abzuhelfen gewesen, sei’s durch exakte Nachbildung der originalen Typographie (was im Deutschen dann eben die Kleinschreibung mancher Substantive erfordert hätte), sei’s durch Hervorhebung entsprechender Wortformen - beispielsweise „Two“, „Of“, „Than“ - in Versalien, also TWO, OF, THAN u.ä.m. Die zweite, gewiss aufwendigere Lösung würde (ebenso wie die ungewöhnliche Interpunktion) den verdeutschten Gedichten auch äusserlich eine gewisse Sperrigkeit und Extravaganz, was zu deren konzeptueller wie metaphorischer Kühnheit durchaus passen würde.
Leider lässt aber die „zutiefst subjektive Lektüre“ der Nachübersetzerin so bedeutsame formale Qualitäten wie weibliche beziehungsweise männliche Versschlüsse oder poetische Besonderheiten wie den gewollt ungenauen Endreim, die Privilegierung von konsonantischen vor vokalischen Lautfolgen und die bevorzugte Verwendung kurzer, oft einsilbiger Wörter weitgehend ausseracht. Dies war, muss man ergänzen, auch gar nicht ihre Ambition. Mehr und explizit geht es ihr, recht allgemein, darum, „möglichst vielen Lesern den Weg zu diesen singulären Originalen zu ebnen“. Dabei tendiert sie allerdings dazu, gerade die Singularität – die provozierende Unbedarftheit, die poetische Dreistigkeit, den genialischenEigensinn – Emily Dickinsons in der Übersetzung tatsächlich einzuebnen und über Gebühr bekömmlich zu machen, indem sie dunkle Laut- und Sinnballungen in plausibel wirkende Aussagen aufdröselt. Ein Exempel für Hunderte (Gedicht 581):
Of Course – I prayed −
And did God Care?
He cared as much as on the Air
A Bird – had stamped her foot −
And cried ‘Give Me’ −
My Reason – Life −
I had not had – but for Yourself −
’Twere better Charity
To leave me in the Atom’s Tomb –
Merry, and nought, and gay, an numb -
Than this smart Misery.
Zu deutsch:
Gebetet hab ich -
Natürlich – und Gott?
Der hörte darauf als hätt auf Luft
Ein Vogel gestampft -
Und Geschrien – ‚Gib’
Mein Grund – ein Leben -
Das ich nicht hatte –
ausser für Dich -
Barmherziger wäre es gewesen –
Mich im Grab zerfallen zu lassen –
Heiter und leer, froh und matt -
Als diese raffinierte Not.
Mit Bezug auf das Gemeinte ist das Gedicht sicherlich korrekt übersetzt. Doch die Originalverse sind syntaktisch und lautlich völlig anders strukturiert als in der eingedeutschten Fassung. Die Ausdrucksweise ist fast durchweg, vor allem gegen des Ende hin, elliptisch - teilweise werden Substantive anstelle von Verben verwendet; Reime gibt es nur zwischen dem zweiten und dritten Vers (Care::Air) sowie im Schlussquartett, wo ein umfassender dreisilbiger Reim mit vager Assonanz (Charity::Misery) durch einen männlichen Paarreim (Tomb::numb) getrennt ist; der Rhythmus ist kurzatmig und einförmig, sein Staccato wird durch die auffallende Reihung einsilbig zu sprechender Wörter geprägt, bevor er – wie in einem langgezogenen Seufzer – mit dem mehrsilbigen „Misery“ ausklingt.
Im deutschen Text gibt es weder klanglich noch metrisch übereinstimmende Reimentsprechungen. Kübler übersetzt hier, wie anderswo auch, formal gänzlich unbekümmert, sie verfährt explikativ, will heissen, sie kommt dem Leser entgegen (gleichzeitigt entmündigt sie ihn), indem sie erklärt, was Emily Dickinson mit subtiler Sprachgewalt nur einfach konstatiert.
„Gebetet hab ich - / Natürlich - “ steht deutsch für „Of Course – I prayed - “, wobei mit „Natürlich“ eine unerwünschte Ambivalenz riskiert wird im Sinn von: „ich hab gebetet, ist doch ganz natürlich“ gegenüber dem klaren Statement „Gewiss – Ich betete - “. Und weiter unten: „Barmherziger wäre es gewesen - / Mich im Grab zerfallen zu lassen - “ - das ist eine schwerfällige, rhythmisch ungelenke Umsetzung, die dem deutschen Leser voreilig vermittelt, was die Autorin hat sagen wollen, statt wiederzugeben, was sie, Wort für Wort, sagt.
Emily Dickinson imaginiert (bereits um 1863!) das lyrische Ich als Kern eines Atoms, von dem es sich wie von einer Grabkammer umschlossen fühlt. Von Zerfall keine Rede. Bei Werner von Koppenfels, der noch 2005 eine umfangreiche, thematisch gegliederte Dickinson-Auswahl vorgelegt hat, lautet dieselbe Stelle wie folgt: „Barmherziger wärs gewesen / Man liess mich in der Atome Gruft - / Heiter, und Nichts, und froh, und stumpf - / Als dieses stolze Elend.“ Der erste Vers dieses Fragments kehrt in der Neuübersetzung fast unverändert wieder, auch sonst gibt es manche Übereinstimmungen, doch hat Koppenfels zumindest, wiewohl im unpassenden Plural, das Atom (aus „Atom’s Tomb“) erhalten, während die Nachübersetzung lediglich das Bezugswort „Grab“ beibehält. - Der letzte Vers ist hier unnötig belastet durch das anachronistische (weil zur Entstehungszeit des Gedichts noch nicht in der heutigen Bedeutung gebräuchliche) Adjektiv „raffinierte“, das mit seinen vier Silben im Vergleich zum englischen „smart“ einerseits zu gewichtig, anderseits zu unverbindlich auftritt. - Demgegenüber fehlt es demselben Vers bei Werner von Koppenfels an rhythmischer Stringenz, wiewohl er, in Übereinstimmung mit dem Original, weiblich auslautet. Vor allem jedoch bildet seine Übersetzung die spezifischen Reimqualitäten überzeugend nach (gewesen::Elend; Gruft::stumpf), ohne dafür merkliche semantische Verluste in Kauf zu nehmen.
Um nicht bloss, wie in der Übersetzungskritik üblich, auf Mängel hinzuweisen, sondern auch eine Lösung anzubieten, schlage ich an dieser Stelle zusätzlich eine eigene Lesart für die vier Schlussverse vor: „’Swär besseres Erbarmen / Mich zu lassen in des Atoms Gruft - / Festlich, und nichts, und froh, und null - / Denn dieser schicke Jammer.“ Allerdings erhebe ich keinerlei Anspruch, dem deutschen Leser auf solche Weise den Weg zu Emily Dickinson zu ebnen. Mir ginge es eher darum, die Fremdheit und Befremdlichkeit ihrer Gedichte nach Möglichkeit zu wahren.
Als weiteres Beispiel führe ich eines der letzten, auch der bekanntesten, schon oftmals ins Deutsche gebrachten und in zahlreichen Anthologien abgedruckten Dichtwerke von Emily Dickinson an:
To make a prairie it takes a clover and one bee,
One clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do,
If bees are few.
Dieses Mikrogedicht ist – man kann hier als Leser nur staunen - von einer Vollkommenheit, die ihresgleichen sucht und die einen Vergleich vielleicht tatsächlich nur in „Ein Gleiches“ von Johann Wolfgang von Goethe findet. In der neuen Übersetzung bekommt man es wie folgt zu lesen:
Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,
Je eins von ihnen,
Und Träumerei.
Die Träumerei tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.
Der gedrängte, in sich aber uneinheitliche Textkörper wird vorab zusammengehalten durch die Wiederholung und wechselnde Anordnung einzelner Wörter sowie durch ein strenges Reimschema (a::a::a::b::b), zu dem auch ein identischer Paarreim gehört (bee::bee). In der neuen Übersetzung wird dieses Schema zwar durchbrochen (a::a::b::b::a), aber doch überzeugend variiert. Anderseits geht der Binnenreim (make::takes) ebenso verloren wie der gekreuzte Parallelismus (sic!) in den ersten beiden Versen, wo „clover“ und „bee“ linear wiederholt, aber mit umgekehrtem Zahlwort versehen werden („a“ und „one“ > „one“ und „a“).
Die Nachübersetzerin beschränkt sich demgegenüber auf „Klee und Bienen“ im ersten Vers, lässt also die Zählung weg und setzt sogar dort, wo klar von einer Biene die Rede ist, eine Mehrzahlform ein. Auf die Wiederholung im zweiten Vers verzichtet sie ganz, statt dessen steht bei ihr umschreibend „Je eins von ihnen“, wodurch der exakte Reim zu „Bienen“ gegeben ist. Der vorletzte Vers kommt, abgesehen vom hinzugefügten „auch“, in wörtlicher Übersetzung, während der schwierige Schluss (wörtlich: „wenn Bienen wenige sind“) im Deutschen so schlicht wie elegant umformuliert wird zu: „Bei wenig Bienen.“Verlust und Gewinn halten sich in dieser Nachdichtung ungefähr die Waage. - Hier, zum Vergleich, die ältere Übersetzung von Lola Gruenthal:
Zu einer Prärie gehört ein Klee und eine Biene,
Ein Klee und eine Biene
Und Phantasie.
Die Phantasie tut’s auch allein,
Sollten Bienen selten sein.
Vielleicht sollte man in diesem Fall das „Hatto“-Verfahren anwenden und aus den beiden – gleichermassen geglückten – Fassungen ein noch besseres Kompilat herstellen; etwa so (von mir als „Plagiat“ in Anführungsstriche gesetzt):
„Für eine Wiese braucht es Klee und eine Biene,
Einmal Klee und eine Biene,
Und Phantasie.
Die Phantasie tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.“
Werner von Koppenfels wiederum schlägt die folgende, im Schlussteil allzu umständliche Lösung vor:
Für eine Prairie braucht man eine Biene, einen Klee,
Eine Biene, einen Klee,
Und Träumerei.
Wenn Bienen knapp sind, tut es auch
Träumerei allein.
Eine interessante, ebenfalls neuere deutsche Lesart dieses Gedichts bietet Wolfgang Schlenker:
Für eine Lichtung braucht’s Klee und eine Biene,
Ein Kleeblatt und Bienengesumm,
Und Träumerei.
Die Träumerei allein tut’s auch,
Falls Bienen rar.
Und, um zu schliessen, noch ein Bienengedicht in der Hanserschen Neuübersetzung:
Ruhm ist wie Bienen
Kann singen -
Kann stechen -
Ah ja, auch fliegen.
Dazu das Original:
Fame is a bee.
It has a song -
It has a sting -
Ah, too, it has a wing.
Auch in diesem Fall besteht die Schwierigkeit der Übersetzung in der komplexen Einfachheit des Urtexts. Formbildend sind die starken Reimbindungen im Verein mit einem exakt symmetrisch placierten Parallelismus („It has ... / It has ... „), der auf metaphorischer Ebene – Ruhm / Biene – seine Entsprechung hat.
Die Nachübersetzerin tut sich sichtlich schwer, dieses strenge Konzept ins Deutsche zu transferieren. Zwar liefert sie auch hier eine auf den ersten Blick korrekte Entsprechung, doch wieder verspielt sie die eigentliche poetische Substanz der Vorlage. Schon mit dem ersten Vers wird die kompositorische Symmetrizität aufgebrochen dadurch, dass sie den Ruhm (Einzahl) einer Mehrzahl von Bienen gegenüberstellt, wobei sie durch das eingeschobene „wie“ die starke Metaphernbildung zu einem blossen Vergleich abschwächt. Bedingt durch die fragwürdige Pluralbildung ergeben sich in der Folge drei zweisilbige Verbformen (singen / stechen / fliegen) und damit drei weibliche Vers-Enden, die zu den im Original akzentuierten einsilbigen Reimwörtern (song / sting / wing) keine adäquate Entsprechung bilden.
Wieder gerät die Nachübersetzung zu einer Art Nacherzählung, die Emily Dickinsons lapidare Fügungen aufweicht und gefällig macht. Die Umformung des Hauptworts „song“ zum Tätigkeitswort „singen“ impliziert eine falsche Vorstellung, denn zu „singen“ pflegen weder Ruhm noch Bienen. - Doch auch bei Werner von Koppenfels, dessen Übersetzung in der Küblerschen Fassung fast wörtlich wiederkehrt, wird gesungen wie gestochen:
Ruhm ist eine Biene.
Kann singen -
Kann stechen –
Ach ja, kann auch fliegen.
Das englische Wort „song“ bezeichnet hier jedoch keineswegs ein Lied, also etwas (in Worten!) zu Singendes oder Gesungenes, sondern – mit speziellem Bezug auf Vögel und Insekten – eine nicht näher bestimmte melodiöse Kundgabe, ein melodisches Geräusch („some musical call“). Dafür müsste auch im Deutschen ein Begriff gefunden werden, der sich mit „Ruhm“ und „Biene“ gleichermassen verbinden liesse. Eine diskutable Kompromisslösung findet sich bei Gertrud Liepe:
Ruhm ist eine Biene.
Er hat das Singen –
Er hat den Stachel –
Ah, dazu, hat er Schwingen.
Insgesamt bringt die neue Nachübersetzung der Gedichte Emily Dickinsons keinen merklichen poetischen Gewinn. Das Bestreben, dem deutschsprachigen Leser hilfreich zu sein, ihm den Weg zum Verständnis der Texte zu ebnen und zu verkürzen, führt im übersetzten Text notwendigerweise zu formalen Entschärfungen, Glättungen, Begradigungen, die die Lektüre zwar erleichtern, gerade dadurch aber die eigensinnige, ja rücksichtslose Sprechweise der Dichterin verunklären und verharmlosen. Erfreulich ist allemal, dass wir nun eine weitere (die bislang umfangreichste) Dickinson-Ausgabe in deutscher Sprache greifbar haben. Darob sollten aber nicht jene ungemeinen Autoren vergessen werden, die bei uns noch immer bloss durch ihre Abwesenheit präsent sind. Wer kennt hierzulande – ein Beispiel sei immerhin genannt - den polnischen Dichter Cyprian Kamil Norwid, einen Zeitgenossen Emily Dickinsons, dessen Werk wie ein gewaltiger Steinbruch sämtliche Elemente bereithält, die erst viel später, in der Literaturrevolution des frühen 20. Jahrhunderts, zum Tragen kommen. Bei allem Respekt vor der Daueraufgabe des Neu- und Nachübersetzens – ein erster Norwid in angemessenem Deutsch wäre, finde ich, ein dringlicheres Desiderat als die x-te Fielding- oder Tschechow- oder Dickinson-Übersetzung.
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Nota bene. – Von Cyprian Kamil Norwid (1821-1883) ist gegenwärtig lediglich ein schmales Bändchen ausgewählter Gedichte in deutscher Übersetzung greifbar („Das ist Menschensache!..“, Thelem Verlag, Dresden 2003); antiquarisch findet sich hin und wieder der vergriffene Novellenband „Das Geheimnis des Lord Singelworth“, der 1989 als Nr. 704 in der Leipziger Insel-Bücherei als Nachübersetzung einer früheren Ausgabe erschienen ist. Dem steht in polnischer Sprache, ebenfalls vergriffen, eine exzellent edierte Werkausgabe in elf Bänden gegenüber, die auf rund 6000 Druckseiten Norwids lyrisches, dramatisches und erzählerisches Schaffen sowie seine Briefe und Zeichnungen erstmals gesamthaft zugänglich macht („Pisma wszystkie“, I-XI, Warschau 1971-1976; daraus eine fünfbändige Auswahl „Pisma wybrane“, Warschau 1980).
Im Hinblick auf Norwids Werk von „Schaffen“ zu sprechen, hat ungeachtet des anachronistischen Begriffs, auch heute seine Richtigkeit. Denn für diesen Autor hatte das Schaffen – entgegen damaligem Kunstverständnis – stets Vorrang vor dem Werk. Was für ihn höher zählte als das literarisch Gefertigte, war das Fertigen des Werks, die poiesis. Immer wieder hat Norwid (selbst in Gedichten) den Akt des Schreibens als handwerkliche Schwerarbeit am Text belobigt, wenn nicht geradezu dekretiert. Mit Verweis auf Vergil plädierte er, im Gegenzug zum Geniekult seiner Zeit, für eine vorab technisch determinierte Dichtkunst, bei der das bewusste Machen, das heisst auch: das Bewusstmachen der Erarbeitung, der Produktion des Gedichts im Vordergrund steht, und nicht die „Inspiration“ aus mehr oder minder diffuser Quelle. Dem «heiligen Feuer» zog Norwid nach eigenem Bekunden eine Handvoll Streichhölzer vor, mit denen er immer wieder neue, eigens gelegte Lunten zu entfachen hoffte. Unter diesem Gesichtspunkt kann ein Werk nie als vollendet oder gar als vollkommen gelten; es wird vielmehr zur Passage, zu einer variablen Scharnierstelle zwischen dem Prozess der Entstehung und dem Prozess der Rezeption.
Norwids Dichtung und Dichtungstheorie – nicht zuletzt seine Aufwertung der Lektüre als Garant für die stetige Entstehung und die immer wieder neue Sinngebung des dichterischen Texts – gehören zu den Urschriften der nachmaligen klassischen Moderne, sind jedoch als solche, ausserhalb Polens, bis heute noch kaum erkannt worden.
Dass für Norwid gerade die Frage nach der Rezeption und damit auch nach der Interpretation künstlerischer Literatur so zentral geworden ist, hat vorab mit seiner eigenen problematischen Zeitgenossenschaft zu tun, mit seiner Unfähigkeit, dann auch mit seinem Unwillen, den damaligen literarischen Trends und Erwartungen zu entsprechen. Ohnehin war Norwid als polnischer Migrant in Deutschland, Belgien, Italien, Amerika und zuletzt, während mehrerer Jahrzehnte, in Paris eine marginale Figur; der Grossteil seines Werks blieb unpubliziert – ein einziges Gedichtbuch erschien zu seinen Lebzeiten, 1863, auf Polnisch in Leipzig, bleib aber weithin unbeachtet.
Statt sich literaturbetrieblichen Erfordernissen anzupassen und nach Erfolg zu streben, wählte Norwid bewusst die Rolle des „dunklen“ Aussenseiters, der immer zu früh vor Ort ist, um wahrgenommen und verstanden zu werden. In eben dieser Rolle arbeitete er auf einsamem Posten und unter ärmlichsten Bedingungen konsequent an seinem Nachruhm, der ihn „in 100 Jahren“ einholen und in einer „postumen Apotheose“ zum Zeitgenossen seiner Enkel machen sollte. Voraussetzung für solch „verspätete Rede“ ist, dass sie bei ihrer Entstehung „aufhört beredt zu sein“, dass sie also darauf verzichtet, sofort verstanden zu werden, etwas bewirken, jemandem gefallen zu wollen. Und umgekehrt war Norwid überzeugt davon, dass Erfolg zu Lebzeiten mit künftigem Nachruhm unvereinbar sei: „Was heute den Gipfel darstellt, ist morgen das Niveau der Scheisse ...“ Und nochmals umgekehrt: Wenn er heute unverstanden bleibe, verlacht und verworfen werde, so sei dies, meint er, die verlässliche Prämisse für seine Anerkennung durch spätere Autoren- und Lesergenerationen.
Konsequent hielt Norwid denn auch an seinem Status als elitärer, hermetischer, einsamer, ja tragischer Autor fest und gab sich als „Barbar“, als „Skythe“ unter schöngeistigen, aber oberflächlichen Bildungsbürgern. Entsprechend instrumentierte er seine Dichtersprache als „Fremdsprache“, indem er sie mit Jargonismen, Archaismen, Dialektismen, Neologismen untermischte; indem er Grammatik und Syntax durch forciertes Biegen und Brechen so sehr verfremdete, dass – und bis – so etwas wie eine Harmonie der Fehler, Regelverstösse, Widersprüche sich einstellte; und schliesslich: indem er die meisten seiner Gedichte (darunter zahlreiche Zyklen) als mehrstimmige lyrische Minidramen mit ständig wechselnder Redeperspektive anlegte und sie überdies mit einer Fülle von typographischen Sonderzeichen und Hervorhebungen auf ein durchweg ungewöhnliches Schriftbild festlegte – Verfahrensweisen, die erst lange nach seinem Tod konstitutiv werden sollten für manche Dichter der europäischen Moderne.
Norwid hat sich im Unterschied zur Mehrheit seiner Zeitgenossen nie gescheut, «die Weisse des Papiers zu beschmutzen und dessen Ladenduft und Frische zu beeinträchtigen» durch sein hochartistisches Radebrechen, mit dem er die ausgeleierte dichterische Rede romantischer Provenienz konterkarierte. «Erst wenn man alles ausdrücken kann», heisst es in einer seiner Künstlernovellen, «ist man frei, und ohne diese Freiheit kann Kunst keine wesentliche Bewegung und kein Leben haben, sondern sie wiederkäut und drischt bestenfalls Vorgefundenes.»
Alles – wie auch immer – ausdrücken zu wollen (mithin das, was Francis Ponge späterhin als «Ausdruckswut» bezeichnet hat), ist der Grundimpuls für eine Poetik des Diversen, die keinerlei thematische, stilistische oder lexikalische Tabus mehr kennt; die vielmehr darauf angelegt ist, das, was nach allgemeinem Dafürhalten nicht zusammengehört und nicht zusammenpasst, zu synthetisieren: Volksmund und hoher Stil, Alltagsmotive und biblische Gleichnisse, Ironie und Erhabenheit, wissenschaftliche Begrifflichkeit und politische Rhetorik, Jargonismen und Lyrismen u.a.m.
Norwid selbst hat für dieses harte Zusammenschneiden disparater Elemente eine ungewöhnliche Realmetapher entwickelt. Eingebettet in die seltsame Erzählung vom «Geheimnis des Lord Singelworth» (1883) findet sich eine knappe Beschreibung des Canal Grande in Venedig, die als szenische Übertragung beziehungsweise Visualisierung seiner Poetik aufgefasst werden kann: «... kleine Karnevalsboote, goldüberzogene Schiffe aus allen Zeitaltern, wappenbunte Galeeren, schwarze Gondeln und mannigfache sonstige Schiffstypen stiessen mit ihren Flanken derat nahe aneinander, dass man trockenen Fusses die ganze Breite des Kanals hin und zurück hätte überqueren können.» – Hier werden zeitlich und funktional ganz unterschiedliche Elemente («Schiffe aus allen Zeitaltern») in enge räumliche Nachbarschaft versetzt («stiessen mir ihren Flanken ... aneinander»), so dass sie sich zu einer scheinbar geschlossenen Fläche fügen, die als Brücke genutzt werden könnte. Im Gegensatz zum modernistischen Gesamtkunstwerk,das Ähnliches mit Ähnlichem zu einem harmonischen Ganzen synthetisiert, bleiben die Seite an Seite liegenden Norwidschen Schiffe voneinander getrennt; sie bilden eine aus ungleichen und unverbundenen Teilstücken locker gefügte, dabei höchst spannungsreiche Ganzheit.
Die Technik von Schnitt und Montage, die Ästhetik des Schocks und der Verfremdung, die nachmals für die Kunstrevolution des frühen 20. Jahrhunderts bestimmend geworden sind, kündigen sich bei Cyprian Kamil Norwid – im lyrischen wie im erzählerischen Werk – bereits unverkennbar an, und es erstaunt nicht, dass die eigentliche Wirkungsgeschichte dieses Werks eben zu jener Zeit des «grossen Bruchs», von dem alle Künste gleichermassen betroffen waren, mit markanter Verspätung begann. Trotz seiner weltliterarischen und transepochalen Vernetzung ist Norwid aber ein singuläres polnisches Phänomen geblieben. In seiner Heimat ist er zum Vorbild mehrerer Dichtergenerationen geworden, im übrigen Europa – selbst im Land seines langjährigen Exils – hat er bis heute nicht Fuss fassen können. An den Übersetzern ist es, seine Stimme endlich hörbar, seine Statur endlich sichtbar zu machen.
Bei diesem Essay handelt es sich um einen überarbeiteten und stark erweiterten thesenhaften Beitrag, den ich im Sommer 2007 für die Neue Zürcher Zeitung zum Themenschwerpunkt „Literarisches Übersetzen“ verfasst und in einer Wochenausgabe (Literatur und Kunst) zur Diskussion gestellt habe. Die dadurch ausgelösten − positiven wie kontroversen − Reaktionen veranlassen mich, meine Überlegungen hier noch einmal in arrondierter und präzisierter Fassung vorzutragen. Vf.