Felix Philipp Ingold: LyrikText

Versuch einer Sprache der Liebe

Albert Camus im erotischen Briefverkehr

Der Schriftsteller, Philosoph und Publizist Albert Camus (1913-1960), Nobelpreisträger von 1957, ist in der französischen Bibliothèque de la Pléiade mit insgesamt sechs Bänden vertreten und gehört damit zum Pantheon der Weltliteratur. Als Klassiker der Moderne hat er sich schon früh ebenso souverän etabliert wie als weithin populärer Schulbuchautor. Dass er nicht nur ein grosser Erzähler und Essayist war, sondern auch ein exzellenter Briefeschreiber, ist durch zahlreiche kollegiale Korrespondenzen belegt, vorab jedoch durch den zuletzt publizierten langjährigen Schriftwechsel mit der Schauspielerin Maria Casarès.*

         Als sich die beiden im Frühjahr 1944 in Paris kennenlernten, hatte sich Camus, 31jährig, bereits nachhaltige Anerkennung verschafft, nicht allein als Verfasser wirkungsstarker Werke («Der Fremde», «Der Mythos von Sisyphos»), sondern auch als politischer Publizist und aktives Mitglied der Résistance im Kampf gegen die deutsche Besatzung. Die um knapp zehn Jahre jüngere Maria Casarès spielte zu der Zeit im Théâtre des Mathurins eine Hauptrolle in Camus’ Bühnenstück «Das Missverständnis».

         Dass die junge Schauspielerin und der arrivierte Autor am 6. Juni 1944 eine kurzfristige Liebesbeziehung aufnahmen, die vier Jahre danach, ebenfalls an einem 6. Juni, durch eine zufällige Wiederbegegnung erneuert und in der Folge bis zu Camus’ Tod fortgeführt wurde, ist zu erwähnen deshalb, weil die Liebenden das übereinstimmende Datum für eine schicksalhafte Fügung hielten. «Warum denn sonst hätte uns das Schicksal ein erstes Mal zusammengeführt? Warum hätte es uns ein weiteres Mal vereint?», heisst es in einem Brief der Casarès vom Sommer 1949 an ihren Geliebten: «Und warum kam es zu dieser erneuten Begegnung genau im richtigen Moment?» Mit solcher Überhöhung gewann die Beziehung von Beginn an eine quasireligiöse Dimension, sie wurde dadurch gleichermassen zur Pflicht wie zur Erlösung und gestaltete sich denn auch zu einem hektischen Leidensweg.

         Hingabe und Verzicht, beides im Extrem, waren die hauptsächlichen Ingredienzien dieser ungewöhnlichen Liebesbeziehung. Wenn sie sich – stets nur für kurze Zeit – trafen, überliessen sie sich, fern der Alltäglichkeit, dem sexuellen Delirium, und wenn sie – in den viel häufigeren und längeren Phasen der Trennung – einander schrieben, taten sie es in lauter Superlativen. Mehr als Superlative und superlativische Vergleiche hat die Sprache für die «grosse» Liebe nicht anzubieten, und deren Bestand ist, gemessen an der Vielfalt der entsprechenden Gefühle, so gering, dass ständige Wiederholungen und Klischeebildungen nicht zu vermeiden sind.

         Dass der geliebte Partner mit der Liebe selbst gleichgesetzt wird, ist das Höchste, was in Worten machbar also mitteilbar ist, nachdem man diesen vorab schon als den «Allerbesten» und «Einzigen», als die «Allerschönste» und «Einzigste» bezeichnet hat. Wie von selbst gerät damit der Liebesdiskurs zur Beschwörung, fast gar zum Gebet. Doch wer sein Gegenüber zum Idol macht, wird ihm nie gerecht werden können. Den beiden Briefpartnern scheint das klar gewesen zu sein. Um nicht in Erhabenheit zu erstarren oder hysterisch sich zu verausgaben, regredierten sie gern ins Kindliche und Frivole.

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Denn eine Lebensgemeinschaft ist aus dieser langjährigen Liebe nicht geworden – der Schicksalsfügung und den beidseitigen Bemühungen zum Trotz. Zu oft waren die Partner aus beruflichen, auch aus gesundheitlichen und familiären Gründen voneinander getrennt. Camus war in zweiter Ehe verheiratet und wollte seine Frau und die Kinder nicht definitiv verlassen, seine chronische Tuberkulose zwang ihn immer wieder zu wochen-, gar monatelangen Klinikaufenthalten; seine dadurch eingeschränkte Arbeits- und Lebenszeit blieb dem literarischen Schreiben und darüber hinaus seinen zahlreichen Verpflichtungen als Regisseur, Vortragsreisender und Verlagsgutachter vorbehalten. Maria Casarès wiederum war voll beschäftigt mit ihrer Theater-, Film- und Radioarbeit, oft unterwegs auf Tournée, überdies verantwortlich für ihre Eltern und Geschwister, die mit ihr aus Spanien nach Frankreich emigriert waren.        

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Dass das Liebesleben bei so vielen äussern Restriktionen auf verhältnismässig wenige, stets knapp befristete Begegnungen beschränkt blieb, ist ebenso leicht nachzuvollziehen wie die weitgehende Verlagerung der Beziehung auf die Ebene des Briefverkehrs: 865 Briefe (postum abgedruckt auf genau 1300 Druckseiten) haben Albert Camus und Maria Casarès binnen anderthalb Jahrzehnten (1944-1959) über unterschiedlichste Distanzen – von Strasse zu Strasse , von Kontinent zu Kontinent – ausgetauscht, um ihren Dialog zwischen den allzu seltenen «stürmischen Gewittern» ihrer ausgelebten Leidenschaft aufrecht zu erhalten.

         Das «Dazwischen» – exzessive Sehnsucht, gespanntes Warten und Hoffen, depressive Niedergänge, dazu Selbstzweifel und Eifersucht – empfanden die Liebenden (gemäss Maria Casarès) als einen lebensgefährlichen Freiraum, wie Trapezkünstler, die sich ohne Netz in der Höhe aufeinander zu und voneinander fort bewegen: «Weit oben, immer ganz weit oben, immer angespannt, der eine am andern hängend, der eine vom andern gehalten, und in der Tiefe – der Abgrund.»

         Diese existentielle Wechselseitigkeit wurde vorwiegend als Schreibbewegung bewerkstelligt: Über viele Jahre hin fand sie ihre Verwirklichung weit häufiger auf dem Papier denn im gelebten Alltag – sie musste aufrecht erhalten und gerechtfertigt werden gegenüber äusserem wie innerem Druck. Die beiden Partner litten darunter, ihre Liebe verbergen oder gar leugnen zu müssen und solcherart in ihrer Verklammerung zu verharren: Einsamkeit zu zweit gewissermassen.          Camus, der als engagierter Moralist öffentlich für Werte wie Wahrhaftigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Genügsamkeit eintrat, konnte sich seine private Verlogenheit und Treulosigkeit nie verzeihen, vermochte sie aber auch nie – nicht vor seiner Familie und nicht vor seiner Geliebten – jemals zu überwinden. Der diesbezügliche Mangel an «Solidarität» liess ihn nach eigenem Bekunden zu einem elenden «Solitär» werden. «Ich kann fühlen, wie ich auf wohlbekannter schiefer Ebene entgleite, an deren Ende ich mich in absoluter Einsamkeit wiederfinden werde», schreibt er im Januar 1950 an die Partnerin: «Angewidert von meinem Leben und unfähig, ein menschliches Antlitz wahrzunehmen.»

         Dass die beiden Liebenden nebenher auch beiläufige Affären und durchaus divergierende Interessen hatten, ist bekannt. Wenn sie ihre angeblich exklusive Schicksalsbeziehung dennoch als die «grosse», die «reine», die «einzige» Liebe ihres Lebens hochhielten und sie gegen vielerlei Zweifel und Anfechtungen verteidigten, war dies allein im Rahmen ihrer Korrespondenz möglich: In Hunderten von Briefen fusionieren sie gelebte und ersehnte Wirklichkeit zu einer literarischen Fiktion von höchstem Rang.

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Die oftmals langwierigen Trennungen führten naturgemäss dazu, dass die Partner nebst den immer gleichen Fragen nach Sinn und Ziel ihrer vermeintlich vorbestimmten Liebe auch zahlreiche Trivia aus ihrem Arbeitsleben erörterten. Als Leser gewinnt man daraus vielfältige, zum Teil sehr detaillierte Einsichten in den zeitgenössischen Theater- und Literaturbetrieb Frankreichs, dessen Protagonisten – Regisseure, Schauspieler, Schriftsteller, Publizisten – allesamt zur gemeinsamen Bekanntschaft gehörten, darunter Berühmtheiten wie Malraux, Sartre, Cocteau, Char, aber auch Gérard Philipe oder Jean-Louis Barrault.

         Oft werden zudem Reisen und Lektüren referiert, auch sehr viel Beiläufiges geht in die Korrespondenz ein: Wetterlage, Begegnungen, Einkäufe, Essen und Trinken, kleine Freuden und Unpässlichkeiten – über alles wird gleichermassen ausführlich, bisweilen ironisch berichtet, wobei Maria Casarès hinter Albert Camus in keiner Weise zurücksteht: Zwei durchweg gleichrangige Brief- und Berufspartner sind hier auf hohem Niveau im schriftlichen Ferngespräch. Und stets bleibt klar, dass ihre Korrespondenz letztlich nur ein Thema und ein Ziel hat, nämlich die niemals vollständig verwirklichte, auf keine Weise zu normalisierende Liebe wenigstens in Worten akut zu halten, sie im unentwegten Akt des Auf-einander-zu-Schreibens immer wieder neu zu vergegenwärtigen. Höchst bemerkenswert ist unter diesem Gesichtspunkt, dass Camus’ vermutlich schwerste Lebenskrise, ausgelöst durch seinen öffentlichen Bruch mit dem langjährigen Gesinnungsfreund Jean-Paul Sartre, in der sonst so detailversessenen Korrespondenz keinerlei Echo findet und bloss indirekt in einem wegwerfenden Nebensatz erwähnt wird.

         «Ich warte auf das stets sich erneuernde Wunder der Präsenz», bestätigt Maria Casarès schon zu Beginn ihrer Korrespondenz. Tatsächlich ist der Brief das optimale Medium für die Aufrechterhaltung dieses »Wunders». Er lässt sich als Objekt leicht aufbewahren oder bei sich tragen, er hat eine sinnlich erfahrbare Qualität, die – über den trennenden Raum und die trennende Zeit hinweg – erhalten bleibt: Material, Gewicht, allenfalls Geruch; dazu die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit der Handschrift, von der recht verlässlich auf die jeweilige Gemütsverfassung des Absenders geschlossen werden kann. Auch wenn Albert Camus und Maria Casarès hin und wieder zum Telefon gegriffen haben, um ihre Kommunikation zu synchronisieren, blieb doch der Briefwechsel die bevorzugte Art ihres Gedankenaustauschs und der Vergegenwärtigung ihrer Liebeslage.

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Einige diesbezügliche Konstanten sind am Leitfaden der Briefe unschwer auszumachen. Dazu gehört zuvorderst der Konflikt zwischen Leben und Werk, Lieben und Schreiben. Fast permanent beklagt sich Camus darüber, nicht schreiben zu können, zu wenig zu schreiben, nicht gut genug zu schreiben (was er bald der Wetterlage, bald seiner prekären Gesundheit oder irgendwelchen Pflichtschuldigkeiten anlastet), und noch jedes Mal befürchtet seine Geliebte, der Grund für die Schreibhemmungen könnte bei ihr liegen, weil sie für ihn nicht gut genug, nicht schön genug, nicht interessant genug, womöglich aber zu anspruchsvoll sei, ihm gleichermassen zu fern und zu nah – ihr schlimmster Verdacht besteht darin, sie könnte den Mann «zu sehr lieben» (April 1950) und eben dadurch seine literarische Produktivität gefährden. Doch dezidiert hält sie fest: «Ich will, dass du gut arbeitest, obwohl es mich gibt.»

         In einem ihrer stärksten Liebesbriefe (der zugleich ein Brief der Zerknirschung ist) bringt Maria Casarès ihre unhaltbare Situation rückhaltlos auf den Punkt und evoziert dabei indirekt das althergebrachte Dilemma zwischen Eros und Künstlertum, in dem die Frau gemeinhin die Rolle des hingebungsvollen Opfers übernimmt, um die Kreativität des Mannes zu fördern oder sie überhaupt erst zu ermöglichen. Nun war die Casarès selbst eine herausragende Künstlerin, im Film und auf vielen Bühnen gleichermassen erfolgreich, dabei aber keineswegs, wie Camus, geplagt von permanenten Selbstzweifeln, und doch hat sie über fünfzehn Jahre hin nie ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse vorangestellt oder sie gegenüber dem Partner gar durchgesetzt. Im Unterschied zu ihm gewann sie ihre Souveränität gerade dadurch, dass sie stets nachgab, ohne jemals sich selbst aufzugeben, derweil er ihre Verzichtleistungen bedenkenlos zur Voraussetzung seiner fulminanten Produktivität machte.

         Dennoch sah sie sich nicht in der Opferrolle, fühlte sich weder ausgenutzt noch getäuscht und erklärte ihre vorbehaltslose Hingabe nur einfach – zu einfach vielleicht – damit, dass ihre Liebe zu ihm identisch sei mit ihrem Leben, weshalb sie ihn logischerweise auch niemals würde verlassen können. «Wo auch immer ich bin, was auch immer ich tue», bekräftigt sie im April 1950: «Ich fühle mich dir zugehörig, verpflichtet, versprochen, und wenn ich absehe von dir, den ich suche, vergesse ich gleichzeitig auch meine Befindlichkeit als Frau – und dies ganz ohne Anstrengung, ohne zu überlegen, ganz natürlich, so wie man schläft, wie man isst, wie man trinkt.»

         Camus indes beteuert, unablässig sich wiederholend, er wolle sich mit ihr zusammentun, alle seine Tage und Nächte mit ihr teilen, vorbehaltslos zu ihr stehen, seine Liebe öffentlich bekunden. Doch immer wieder zieht er sich zurück, lenkt ab, meldet irgendwelche Vorbehalte an, beruft sich auf seine Verpflichtungen gegenüber Frau und Kindern, denen er sich weiterhin verbunden fühlt, und weckt damit über kurz oder lang die Vermutung, dass er genau dies – das gleichberechtigte Zusammenleben mit Maria – in Wahrheit vermeiden will. Um so häufiger und inständiger bittet er sie, keine Zweifel an seiner Liebe aufkommen zu lassen. Offenkundig leidet aber er selbst unter derartigen Zweifeln, ähnlich dem Protagonisten seines Romans «Der Fall» (1956), der zur desolaten Einsicht kommt, dass der, der sich selbst nicht lieben könne, auch andere nicht lieben kann.

         In Albert Camus’ letztem Theaterwerk «Die Besessenen» (nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor Dostojewskij) gibt es einen langen Dialog zwischen zwei ungleich verliebten Partnern, die einander sexuell verfallen sind und sich gleichwohl – oder deshalb? – erotisch nicht erreichen können. Exakt ein Jahr vor seinem Tod scheint der Autor hier den Status und das Fazit seiner Beziehung zu Maria Casarès – wie seine Liebesbeziehungen generell – öffentlich zu machen. Was er selbst niemals auszusprechen wagte, lässt er in der 16. Szene des Stücks durch den Fürsten Stawrogin rücksichtslos klarstellen:

         «Ja, verfluche mich», ruft dieser der Geliebten zu: «Du hast das Recht dazu. Ich wusste doch, dass ich dich nicht liebe und hab dich dennoch in Besitz genommen. Niemals habe ich für irgendjemanden Liebe empfunden. Ich begehre, das ist alles. Und ich habe von dir profitiert. Doch stets hatte ich gehofft, eines Tages lieben zu können, und stets war’s meine Hoffnung, dass du es seist. Dass die bereit warst, mir zu folgen, hat diese Hoffnung bekräftigt. Ich werde lieben, ja, ich werde dich lieben …»

         Worauf die Frau, ebenso klarsichtig, erwidert: «Ach! Ich bin Ihnen aus Stolz gefolgt, um in Sachen Grosszügigkeit mit Ihnen zu rivalisieren; ich bin Ihnen gefolgt, um mich mit Ihnen zugrunde zu richten, um Ihr Unglück zu teilen. (Sie weint.) Und doch hatte ich die Vorstellung, Sie liebten mich bis zum Wahnsinn. […] Doch genug! Ich bin zu nichts zu gebrauchen, und auch Sie sind zu nichts zu gebrauchen. Trösten wir uns, indem wir einander die Zunge zeigen.»

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Aus dieser fundamentalen Ambivalenz gewinnt der vorliegende Briefwechsel seine prekäre Erhabenheit, seinen stets flehentlichen Kammerton, seine emotionale Hochspannung, aber auch – letztlich – seinen tieferen Sinn. «Gelebt» wurde diese Liebe ausschliesslich im sprachlichen beziehungsweise schriftlichen Vollzug, und festen, alles umfassenden Bestand hatte sie allein als epistolarische Fiktion. «Wirklich» gelebt wurden einzig die allzu seltenen und jedesmal zu kurzen sexuellen Exzesse, ausserdem die intensiven Momente künstlerischer Zusammenarbeit auf dem Theater.

         Die Normalisierung ihrer vielschichtigen Beziehung ist den beiden Liebenden nicht geglückt, oder sie ist ihnen erspart geblieben, weil sie an ihre Verwirklichung letztlich selbst nicht glauben mochten. «Wir gleichen allen andern und sind doch etwas Besonderes», schreibt Camus im sechsten Jahr des Briefwechsels (April 1950): «Wir begehren das Leben von jedermann und können es nicht bekommen.»

         Von daher bietet sich die Korrespondenz zwischen Maria Casarès und Albert Camus eher als ein literarisches denn ein dokumentarisches Gemeinschaftswerk an: Der überwältigende Faktenreichtum wird transzendiert von der kunstvollen Fiktion einer grossen Liebe, die als die «grösste» überhaupt beglaubigt und mit entsprechender Rhetorik vorgeführt werden soll.

         Diesem Ansinnen sind allerdings enge Grenzen gesetzt, da die

Sprache (wie poetisch auch immer sie instrumentiert wird) der Vielfalt und der Intensität der Gefühle nur unzureichend gerecht werden kann. Die beiden stilistisch höchst versierten Korrespondenten versuchen dies zu bewerkstelligen durch den Einsatz zahlloser Superlative, Treueschwüre, Anrufungen, Belobigungen, die in ständiger Wiederholung naturgemäss rasch verflachen.

         Konsequent identifizieren sich die Liebenden wechselseitig mit der Liebe schlechthin. «Meine liebe Liebe», «meine geliebte Liebe» ist die übliche Begrüssung, und durchweg wird die «Liebe» mit dem «Leben» gleichgesetzt, so dass das allfällige Ende dieser Liebe nur der Tod sein kann. Während Camus seine Partnerin vorzugsweise als «die Einzige» (oder «Einzigartige») bezeichnet, gern auch als seine «Pracht», sein «Licht», seine «Wilde», seine «Göttin», seine «Glorie» und nicht zuletzt als sein «Kind», wird er von der Casarès ohne Umschweife als «Gott», als «Idol», als «Heiliger», als Quell alles Guten und Wahren angerufen, und mehr als das – sie glaubt in ihm aufgegangen (oder auferstanden), mit ihm «eins» zu sein: «Ich liebe dich. Ich liebe dich, meine schöne, meine teure, meine sanfte Liebe. Meine Schönheit. Meine Zuversicht. Ja, meine Seele. Mein Leben. Ich liebe dich.»

         Auf solch stereotype Weise lässt sich auch Albert Camus, der Schriftsteller, vernehmen – nicht aus sprachlichem Unvermögen, sondern weil die Sprache als solche nur eine beschränkte Anzahl von Worten und Metaphern für die Liebe, zumal die grosse Liebe zur Verfügung stellt; die meisten davon sind im übrigen Allgemeingut, gehören also nicht einer exklusiven Liebesrhetorik an. Was diese Korrespondenz dennoch zu einem Werk grosser Literatur macht, sind all jene – viel zahlreicheren – Passagen, die gerade nicht der Beschwörung der Liebe gewidmet sind, sondern der Beschreibung ihrer oftmals trivialen Begleitumstände, durch die sie eingeschränkt, von der sie aber auch getragen wird.

         Mit staunenswerter Wahrnehmungs- und Darstellungskraft schildern die getrennten Partner ihre jeweils aktuelle Lebenswelt, Momente der Einsamkeit und Beschaulichkeit, der Ausgelassenheit und Daseinsfreude; sie berichten einander über Lektüren, Ausflüge, Begegnungen, tauschen sich aus über Erfahrungen mit Kunst oder Musik, über Querelen mit Verwandten oder Kollegen – insgesamt ein differenziertes Wimmelbild des Pariser Kultur- und Alltagslebens in den Jahren nach dem Weltkrieg, zugleich eine luzide, bisweilen erbarmungslose wechselseitige Befragung und Herausforderung.          Beide wollen voneinander «alles» erfahren, Wichtiges wie Nebensächliches, um den Realitätskontext ihrer «irrealen» Liebe zu erkennen und ermessen zu können. Dabei gelingen ihnen viele deskriptive, anekdotische, lyrische, komische, kritische und selbstkritische Momentaufnahmen, die sich gesamthaft zu einem epochalen Panorama fügen: Der Briefwechsel zwischen Albert Camus und Maria Casarès liest sich unter diesem Gesichtspunkt wie ein monumentaler Zeitroman, spannend und lehrreich, verstörend und tröstlich zugleich.

*) Albert Camus / Maria Casarès, «Correspondance». 1944-1959. Gallimard, Paris 2017; 1300 Seiten.


veröffentlicht in: Volltext, Januar 2020

Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Herausgeber in Romainmôtier (welsche Schweiz); jüngste Buchpublikationen: «Körperblicke» (Essay) und «Endnoten» (Prosa), beides bei Ritterbooks, 2019.