Felix Philipp Ingold: LyrikText

Jekami -

Auch in der Literatur hat sich die Laienherrschaft durchgesetzt

„Zu gut!“ – mit diesem Ausruf wird im Tennis ein Angriffsball kommentiert, der so ingeniös ins gegnerische Feld gelangt, dass er nicht zurückgespielt werden kann. Überragendes Können erbringt hier Gewinnpunkte und wird entsprechend mit Applaus honoriert. Nicht so in der Literatur, wo künstlerische Bestleistungen in aller Regel als zu „schwierig“, als zu „elitär“ gelten, um besprochen oder gar ausgezeichnet zu werden. Die sogenannten Bestenlisten sind längst zu Bestsellerlisten verkommen, Quantität hat durchwegs Vorrang vor Qualität. Als „Qualität“ gilt nicht mehr das Können (Literatur als Kunst), sondern die quantitative Produktion, der Erfolg auf dem Markt, die Präsenz im Betrieb und, nicht zuletzt, die Ausstattung der Autorinnen und Autoren mit Preisen, Stipendien und sonstigen Ehrungen. Die Anzahl solcher Auszeichnungen scheint von essenzieller Wichtigkeit zu sein, in der Verlagswerbung werden sie – als prekärer Leistungsausweis – gleichrangig mit den Werktiteln vermerkt.

Was einer „Auszeichnung“ würdig, sie also wert ist, wird in aller Regel von einem Gremium von Gutachtern (Experten, auch Kritikern) bestimmt, die autoritativ und weitgehend unangefochten als „Jury“ auftreten, sei’s bei Wettbewerben, sei’s bei regelmässig verliehenen Stipendien, Buch- und Förderpreisen. Ausgezeichnet wird gemeinhin nicht beste Qualität, sondern schiere Konsensfähigkeit, das mithin, was unterschiedlichsten, auch außerliterarischen Kriterien genügen kann, mit Literatur als Kunst aber nichts zu schaffen hat – etwa Geschlechts-, Religions-, Partei- oder Verlagszugehörigkeit, Alter und sozialer Status, politische oder ideologische Position usf.
Als konsensfähig können nur gefällige, mehrheitlich akzeptable Kandidaten gelten, die sich bestehenden Trends und Vorlieben zuordnen lassen. Dies wiederum passt (weit über den Literatur- und Kunstbetrieb hinaus) zur generellen Gleichmacherei in den Medien, den Institutionen, der Politik. Beleg dafür ist die stetig wiederholte Forderung nach allseitiger „Gleichstellung“: Kollektivität, Inklusion und Uniformität am Arbeitsplatz, im Sport, bei der Ernährung, bei der Gesundheit, vermehrt auch im Sprachgebrauch, sogar im Denken und Fühlen.

Heute ist in der Belletristik kolloquiale Prosa gefragt, vorrangig Docufiction mit thematischen Schwerpunkten wie Herkunft, Familie, Missbrauch, Krankheit, Trennung, Migration, Drogen, Sex, Natur. Meist jedenfalls bleibt das spezifisch künstlerische Vermögen von Literatur ungenutzt, nämlich die Konstruktion möglicher Welten, die als solche im Erzähltext einen eigenen Realitätsstatus gewinnen und somit etwas Reales entstehen lassen, das als rein künstlerisches Faktum Bestand hat und gleichzeitig der realen Welt angehört. Doch solch angeblich abgehobene Literatur findet aktuell weder beim Feuilleton noch beim Lesepublikum irgendwelchen Zuspruch: Beschreibungsprosa, experimentelle Texte und überhaupt Literatur mit Kunstanspruch werden im Betrieb unbesehen aussortiert.
Man mag das bedauern, man kann es auch begrüßen, in jedem Fall ist es, ob man’s will oder nicht, als Tatsache zu akzeptieren. Bleibt die Frage, weshalb die mehrheitsund konsensfähige Literaturproduktion, der doch jede Innovationskraft und jedes Formbewusstsein abgehen, weiterhin als „schöne Literatur“ einen Kunstanspruch erheben sollte, obwohl sie, einerseits, diesem Anspruch formal nicht genügen kann, und obwohl, andrerseits, die überwiegende Leserschaft auf diesen Anspruch noch so gern verzichtet. Leserkommentare, Besprechungen und Werbetexte stimmen darin weitgehend überein. Dass unbedachte Superlative weit häufiger zum Einsatz kommen als sachbezogene Argumente, wird im Tagesfeuilleton ebenso exemplarisch vorgeführt wie in Kritikerrunden bei Schreib- und Lesewettbewerben.

Das Jekami-Prinzip – jeder kann mitmachen – gilt derzeit für Schreibende und Lesende gleichermaßen. Laienhaftes Schreiben wie laienhafte Lektüre sind unanfechtbar dominant und somit meinungsbildend geworden, sie prägen das allgemeine Literaturverständnis und, vor allem andern, den mehrheitlichen, mithin maßgeblichen literarischen Geschmack. Laienherrschaft da wie dort – jeder und jede darf nun tatsächlich Literatur als „Kunst“ praktizieren und darüber hinaus mitbestimmen, was als „Literatur“ beziehungsweise als „Kunst“ zu gelten hat. Dazu kommt neuerdings als Verstärker solch leichter Literatur die künstliche Intelligenz – sie hat innert kürzester Zeit eine Schreibkompetenz entwickelt, die dem literarischen Mittelmaß durchaus gewachsen, wenn nicht überlegen ist.
Ich nehme an, dass die zeitgenössische belletristische Produktion (Lyrik inbegriffen) großmehrheitlich durch ChatGPT – allenfalls mit Beihilfe des Lektorats – auf dem Niveau bewerkstelligt werden könnte, das der gegenwärtigen Geschmacksnorm entspricht. ChatGPT wird in absehbarer Zeit die bestehenden Literaturinstitute und Schreibwerkstätten wie auch die Berufsschriftstellerei überflüssig machen. Übrigbleiben werden allein jene wenigen Autoren (auch Autorinnen), die heute als elitäre Minderheit mit unverwechselbarem, als unzeitgemäß verpöntem Personalstil am Rand des Betriebs operieren.

Kunst und KI werden getrennte Wege gehen, der Literaturbetrieb wird durch Computer aufrechterhalten ohne Beteiligung individueller Autoren. Damit wird naturgemäß auch das Rezensentenwesen obsolet – wer wollte, wer sollte denn computergenerierte Texte noch besprechen wollen? Und wozu? Vollends obsolet werden die Literatur-Jurys, deren Rat und Urteil nicht mehr von Interesse sein kann, wenn die KI die Werkherrschaft übernimmt. Nur ein Preis wird dann noch zu vergeben sein: der Publikumspreis aus den dichten Reihen unberufener, selbsternannter Geschmacksrichter.
Doch kaum etwas wird sich dadurch auf der Produktund Qualitätsebene ändern. Die flache Mehrheitsliteratur wird weiterbestehen, jedoch nicht mehr als namentlich verantwortete „Kunst“, sondern als künstliche Hervorbringung im Mainstream für Normalverbraucher. So oder anders wird das Mittelmaß der bestimmende literarische Gradmesser bleiben. Friedrich Hölderlins diesbezügliche Diagnose hat Geltung nach wie vor: „Ach! der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt …“ Nur dass die „Menge“ inzwischen von der schweigenden zur tonangebenden Mehrheit geworden ist.


erschienen in:
Kulturelemente - Zeitschrift für Kultur und aktuelle Fragen
#174 - Die Mitte, Seite 6
06.02.2024