Wo bleibt die spitze Feder?
Die Aphorismen verschwinden, dabei wären sie die ideale Textsorte für unsere Tage.
Dem Begriff und der Funktion nach ist der Aphorismus eine Textsorte, die mit minimalem, dabei präzis instrumentiertem Wortaufgebot maximale Wirkung erbringen soll – seine Sprengkraft ist stets auf einen Aha!-Effekt angelegt, auf blitzartige intellektuelle Erhellung, sei’s durch Provokation, Kritik oder Komik, sei’s durch Verblüffung, Belehrung oder Mahnung.
Von Merkversen, Wetterregeln, Kinderreimen oder Werbesprüchen unterscheiden sich Aphorismen dadurch, dass sie auf eine überraschende Pointe hinauslaufen, statt bloss allgemeine Erfahrungen und Erwartungen festzuhalten; sie zielen nicht auf Vertrautes, begnügen sich nicht mit dessen Affirmation oder Verteidigung, sie sind unentwegt auf dem Sprung beziehungsweise auf dem kürzesten Umweg zu ungeahnten, vielleicht auch vergessenen Wahrheiten.
Wenn einst Theodor W. Adorno pauschalisierend festhielt, jeder gelungene Aphorismus könne und müsse eine philosophische Monografie ersetzen, sollte man das eigentlich noch heute – oder heute wieder – zu schätzen wissen angesichts der Massenhaftigkeit und Unübersichtlichkeit des Informationsangebots und der Schwierigkeit, dieses Angebot kurzfristig und effizient zu nutzen. Zudem bietet der Aphorismus als minimalistische Textsorte den Vorteil raschester Lesbarkeit – mit einem einzigen aphoristischen Satz (oder jedenfalls in wenigen Zeilen) hat man tatsächlich einen vollständigen Text gelesen, ein vollständiges Werk mithin, und nicht nur ein Fragment.
Der Aphorismus bewährt sich somit in knappster Form als ein grosses Ganzes, hat stets eine klare An- und Aussage, ist in aller Regel leicht memorierbar, bietet oftmals Rat für die Lebenspraxis – sei’s als Empfehlung, sei’s als Warnung – und könnte insofern die optimale Lektüre für unsere Tage sein.
Das allerdings ist offenkundig nicht der Fall. Rat holt man sich anderwärts und auf andere Weise, man recherchiert im Internet, man konsultiert Ratgeber aller Art, wissenschaftliche und esoterische Angebote finden sich allerorten und werden nach Belieben zusammengeführt. Eher beiläufig trifft man demgegenüber – etwa in Kalendern oder Todesanzeigen – auf aphoristische Weisheiten zur Lebensführung und zum Lebenssinn, doch als eigenständige Textsorte sind sie für Autoren wie für Leser kaum noch von Interesse.
«Nur der Stil rettet»
Aphoristiker vom Rang eines Dávila, Porchia, Lec, Benyoëtz oder Kudszus gehören, ihrem überzeitlichen Geltungsanspruch zum Trotz, der Vergangenheit an (obwohl einige von ihnen bis ins späte 20. Jahrhundert aktiv geblieben sind), und es sieht nicht danach aus, als könnten sie für zeitgenössische Dichter und Denker noch vorbildlich sein, obwohl sie doch, wie alle aphoristischen Autoren, konsequent an der Demarkationslinie zwischen Dichten und Denken operiert haben. Der späte W. H. Auden hat es vorab schon in einem seiner «Shorts» illusionslos festgehalten: «Nur schlechte Rhetorik | kann unsre Welt verbessern, | denn die ist für wahre Rede taub.»
Bekanntlich hat Stanisław Jerzy Lec seine Aphorismen einst als «unfrisierte Gedanken» bezeichnet und sie auch in mehreren Ausgaben so betitelt. Doch unfrisiert dürfen Aphorismen gerade nicht sein, weder ihrer Form noch ihrer Intention nach, im Gegenteil, es gehört zu ihrer Eigenart und garantiert ihre Wirkung, dass sie sprachlich wie gedanklich streng «frisiert» sind.
«Die Wahrheit mag den Ausschlag geben», meint in solchem Verständnis der aphoristische Grossmeister N. G. Dávila: «Aber nur der Stil rettet.» Und: «Der legitime Besitzer einer Idee ist derjenige, der ihr die perfekte Sprachform verleiht.» – Eben diese Strenge, in der Formvollendung und Treffsicherheit sich verbinden, macht den Aphorismus zu einer letztlich elitären Textsorte, die den aktuellen, eher nachlässigen literarischen Sprachgebrauch klar konterkariert, sich aber nicht dagegen zu behaupten vermag.
Erschwerend kommt hinzu, dass die aphoristische Rhetorik gern mit literarischen oder philosophischen Anspielungen operiert, die auf Leserseite entsprechendes Vorwissen erfordern. Über solches Vorwissen – eingeschlossen Mythologie, Kunst, Geschichte – verfügt man heute weit weniger als noch vor einem halben Jahrhundert, da die Aphoristik als eigenständige, höchst anspruchsvolle Denk- und Schreibweise entsprechend gefragt war und auf beachtlichem Niveau praktiziert wurde. Dass Aphorismen oft auf ironische Zwischentöne gestimmt sind und sich gern in paradoxalen Denkfiguren ausleben, macht sie mehrheitlich zur anspruchsvollen, als schwierig empfundenen Lektüre.
Doch «schwierige» Lektüre hat heutzutage – anders als in den hohen Zeiten des Nouveau Roman, des Strukturalismus und der experimentellen Poesie – kaum noch ein kompetentes Publikum und wird auch von der Kritik eher gemieden als gefördert: Was (oder wer) für «schwierig» gehalten wird, taugt bestenfalls zum «Geheimtipp», derweil der literarische Zeitstil so gut wie ausschliesslich von leicht konsumierbarer Belletristik seine Prägung erhält.
Von allgemeiner Gültigkeit
Anders als die gegenwärtige Trendliteratur – die Lyrik eingeschlossen – mit ihrer Neigung zu familiären, sozialen, politischen wie auch zu subjektiven Befindlichkeiten tendiert der Aphorismus zu allgemeiner Gültigkeit, ist vielmehr sach- als subjektbezogen, spricht oft in der zweiten oder dritten Person (du, er, man, wer) und bedient sich mit Vorliebe einer indirekten, zitathaften, gleichsam anonymen Rede, die ihre Autorität gerade nicht durch das Ich-Sagen gewinnt, sondern dadurch, dass sie ein Es, mithin eine unpersönliche beziehungsweise überpersönliche Instanz zu Wort kommen lässt.
Vielfach konstituiert sich dieses Es aus der Sprache selbst, dort nämlich, wo Bedeutung allein aus dem Wort- und Gedankenspiel erwächst. So wie in der Versdichtung der Endreim nicht nur Gleichklang, sondern auch Sinnbildung bewerkstelligt, ziehen in der Aphoristik sprachliche Klangereignisse die Gedanken gleichsam nach sich.
Nur wer etwas zu sagen hat und es auch zu sagen weiss, verschreibt sich der aphoristischen Rede. Dass die herausragenden Vertreter dieses Genres grossmehrheitlich konservative, wenn nicht reaktionäre Denkpositionen vertreten, ist ebenso auffällig wie die Tatsache, dass der Aphorismus bei weiblichen Autoren kaum Interesse findet – Marie von Ebner-Eschenbach ist diesbezüglich ein rarer, schon weit zurückliegender Ausnahmefall.
Zwei noch kaum wahrgenommene zeitgenössische Autoren, Florian Günther («Schutt», 2016) und Theo Kneubühler («Atem frei wie etwas», 2008), liefern im Übrigen den Beleg dafür, dass – und auf welche Weise – der Aphorismus nach wie vor virulent sein kann, ohne sich ideologisch festzulegen.
Auch wenn ihre Texte nicht explizit als Aphorismen ausgewiesen sind, bekommt man hier «Weisheiten» in höchster Verknappung vorgeführt – bei Kneubühler geprägt von einem gewollt begriffsschwachen poetischen Denken, das elementare Dinge und Phänomene (Atem, Schmerz, Raum, Grund, Schnee, Schatten usw.) in verfremdeter, oft befremdlicher Wahrnehmung ganz neu zu Bewusstsein bringt. Etwa so: «Der Kampf ums Aufrechte: versinken können bis aufs letzte Haar. Du bist dein Strohhalm.» Oder anders: «Die Freiheit, in die du gebissen hast, frisst dich auf.» Und endlich: «Der Raum, in dem Scheitern nicht Verlust ist, sondern festes Ja, er wächst durch dich.»
Bei Günther indes bleibt das Denken betont alltagsnah, pragmatisch, leicht nachvollziehbar, nichts Menschliches scheint ihm fremd zu sein, die Diktion, bisweilen ruppig und wegwerfend, bleibt durchweg zeitgemäss und behauptet zugleich überzeitliche Gültigkeit: «Ein falsches Wort am rechten Platz kann Wunder wirken.» Und: «Auch sich zu widersprechen, ist ein Dialog.» Mag sein, dass der Aphorismus, ist er nur widersprüchlich genug, doch noch einmal eine Zukunft hat?!
NZZ - Neue Zürcher Zeitung, 19.12.2019, Ressort: Feuilleton, Seite: 38