Felix Philipp Ingold: LyrikText

September 2019


Kitsch- und Trashpoesie

Eine Dominante heutiger Wortkunst

 

«dichtung – nichd gut»
André Thomkins

 

 

Längst gibt es zwischen U- und E-Literatur keine rote Linie mehr, das U wird zum E gemacht, das E ins U verkehrt: Literatur verliert ihren Kunstcharakter, wird aber nicht, wie einst bei der nun schon "klassischen" Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, als Anti-Kunst praktiziert, sondern lässig, bisweilen betont nachlässig als Nicht-Kunst vorgeführt − ein Gestus, den schon vor einem halben Jahrhundert Andy Warhol mit seinem Trash-Roman "a" vorgezeichnet hat und der nun offenbar, faute de mieux, reaktiviert werden soll.

            Zu den Protagonisten des Trends zählen in Deutschland diverse Rap-Poeten, aber auch angeblich "dissidente" beziehungsweise "exzentrische" Dichterpersönlichkeiten wie Mara Genschel oder Monika Rinck oder Ann Cotten, die nach eigenem Bekunden "Dichtung", «Lyrik», «Literatur» überhaupt eigentlich "Scheisse" finden und dennoch unentwegt "dichterisch" tätig sind. Wie das? Nach Cotten etwa so: «Ich will nicht dichten, hört ihr, ich will unter | der Dichtung durch. Ich will nur die Gunst | der – und ich will sie nur sehen und nicht quittieren – der Stunde.» So klingt’s, wenn ein lyrisches Ich für eine zerknirschte Autorin spricht.

            Die Unterscheidung von U- und E-, von "unterhaltender" Trend- und "ernster" Kunstliteratur scheint hier nicht mehr produktiv zu sein; sie ist wohl auch gar nicht mehr opportun, da die Literaturschaffenden selbst an der Grenzverwischung interessiert sind und dafür auch bereits die passenden Techniken entwickelt haben. Diverse Internetforen und literarische Blogs, Lesungen und Workshops auf Youtube lassen erkennen, dass sich in den vergangenen Jahren eine weithin vernetzte Interessengemeinschaft junger und nicht mehr ganz so junger Autoren etabliert hat, denen an Spass und Kitsch und Nonsense weit mehr gelegen ist als an literarischem Qualitätsanspruch oder für die allein schon der spielerische Gegenzug zu hergebrachten Qualitätskriterien zu einem Qualitätsmerkmal geworden ist.

            Solche Autoren, solche Autorinnen wollen nicht mehr (wie einst ihre "progressiven" oder "avantgardistischen" Vorläufer) als "innovativ" gelten. Statt Originalität und Unverwechselbarkeit streben sie explizit eine unkreative Kunst und Methode an − für sie genügt es, bei Gleichgesinnten ("followers") "in" zu sein, "anzukommen", "gelikt" zu werden. Freilich sind die meisten von ihnen bereits bei den grossen Publikumsverlagen «angekommen» und werden auch vom Feuilleton wortreich «gelikt».

            Präsenz und Performanz haben hier Priorität vor den Texten selbst, die ihrerseits zur Beliebigkeit, oft zu gewollter Irrelevanz tendieren, nicht selten ergänzt durch infantil stilisierte Illustrationen oder (beim Vortrag) durch unbedarfte Gesangseinlagen. Bemerkenswert bleibt, dass all dies nicht auf künstlerisches Versagen zurückzuführen ist; dass viele, die meisten dieser Trashpoeten literarisch weithin bewandert sind, den Ertrag ihrer Lektüren aber offenkundig als Ballast empfinden, den es konsequent zu verballhornen, dann abzuwerfen gilt: Die lyrische Leier wird durch das Hackbrett ersetzt.

            Doch rezipiert (vereinnahmt) wird ja ohnehin alles – dem Zugriff, den Übergriffen des Betriebs widersteht auch diese arme jüngste Dichtung nicht, die sich auf das Labern, das Pöbeln, das Kopieren, das Durchstreichen, das Einklammern, das Schlecht- und das Falschschreiben kapriziert: Schreiben als autopoetisches Recycling von vorgefundenem Sprachmüll. «Bud und Murre-Plon, vom Haselstock geschabte Kuletschchen kaupeln Irrscht-Risskrautige Kukatschken, so Bumbel-Quebbeten die gerblichen, die Pluntschken Mlaz, Ploch, Mierwa, Distel und Wrr’brrnt moosern, Schnabenz die Metla Lobbede Schädgen und Schminka.» (O. Egger) Plausible Verständnis- oder  Verwendungsmöglichkeiten für solches  Geschwurbel gibt es freilich nicht. Doch der Betrieb  wird den Trash-Trend sicherlich in Bälde für eine «neue» beziehungsweise «aktuelle» Schund- und Kitschpoetik vereinnahmen und ihn damit erst recht als die harmlose Modeerscheinung beglaubigen, die er bis auf Weiteres noch ist.

            Derweil muss man sich (soll man sich?) mit Plauderversen wie diesen begnügen: "Maurer reden, / um handelseinig zu werden. / Die Erste, die kommt, / um ihrem Liebsten / das Essen zu bringen, / wird mit Haut und Haaren / dem Mörtel beigemischt." (O. Kalász) − Oder: «Kommt ein Mann täglich / Wie ein wie heißen die / Will mich Kindlein wiegen / Streichelt über meine Wange denk ich / Mörder du Dieb Sie lassen Sie das / Bitte weitermachen unablässig / Riech ich nach Arnika …» (N. Gomringer)  – „I’m small talk diner / kleineren Constellation / fuel das Wort ‚poets life‘.“ (M. Genschel) – Und noch (und noch): "Sei das Unkraut, sei Graffiti, überwuchere und überzieh. / Sei das, was Rest wird; sei der Anfang, der schon angefangen hat." (T. Krämer) – Und schliesslich (aus M. Rincks Überschreibung eines Gedichts von Hugo von Hofmannsthal): «[…] Und süsse Häschen werden aus den herben | Und fallen nachts vor roten Quallen nieder | Und liegen wenig Tage und verfärben. || Und immer weht der Wind, und immer wieder | Vernehmen wir und reden viele Worte | Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.»

            Dazu, entsprechend, in lyrischer Sprechblasenprosa: «Äh Lieber äh John, äh Bitte äh lass äh Don äh die äh Anmeldung äh unterschreiben äh wo äh markiert äh ist. Äh äh äh Sobald äh die äh Anmeldung äh unterschrieben äh ist äh, bitte äh schicke äh sie äh mir äh per äh Email äh oder äh Fax.» (A. Cotten, «Lyophilia») – Wie «ein Schuss ins Knie» soll Geschriebenes dieser und äh-ähnlicher Art laut Verlagsempfehlung auf die geneigte Leserschaft wirken, oder auch – ist eh egal – wie »Science Fiction auf Hegelbasis»: «... eine Formulierung, vor eine Wirklichkeit gehalten, und plötzlich wird präzise, was sonst in der Form eines dumpfen Ahnens herumvegetiert. Und wo der mögliche Realismus aufhört, fließt heiß und pochend Emotion heraus.»

            Der Werbetext scheint den Stil der Autorin zu parodieren, in Wirklichkeit dürfte es sich, umgekehrt, so verhalten, dass sie selbst ihre Schreibweise dem Geschwafel der Werbung angepasst hat. «Das ist eben das Unvergleichliche an den Heiligen», so ist an andrer Stelle zu lesen, «dass sie das Dumme und das Wahre, das Starke und das Spitzfindige zu einer skarabäischen Lehmsphäre zusammenkneten (lassen), gewissermaßen, mit der man gemäß der Ballistik verfahren kann, dort, wo Treffen und Verschleudern knapp nebeneinanderliegen.» Und … aber für wen eigentlich steht hier «man»?

            Das sind, klar, lediglich Fragmente, als solche freilich durchaus repräsentativ für die poetische Trash- und Fake-Rede dieser Tage: Die jüngste deutsche Romanproduktion (Lewitscharoff, Setz, Köhler, die postume Kronauer usf.) steht beispielhaft dafür, wird aber von der Kritik noch immer mehrheitlich als «ausserordentlich», «hochintelligent», ja «wunderbar» rubriziert, wiewohl sie nur einfach dröge ist – so nichtssagend eben, wie sie sein will. Beliebige Extrakte aus solcherlei Dicht- und Erzählwerken liessen sich leicht zu einer Endlosschlaufe zusammenschneiden und ergäben insgesamt so etwas wie einen dissonanten Plauderchor. Deutsche Dichtung heute! Konsens- und also mehrheitsfähig bereits, und oft – tatsächlich! – kaum noch zu unterscheiden von der Mainstreampoesie, der sie sich doch zu entziehen und zu widersetzen sucht.

            Wenn man die «immer schnellere Zirkulation von Waren und die immer raschere Abfolge von Verzehr und Entsorgung» als Charakteristikum der heutigen Konsumgesellschaft begreift (Zygmunt Bauman), hat man zu einem guten Teil auch den Literaturbetrieb als Konsumgütermarkt begriffen. Dieser Betrieb, dieser Markt ist nun nicht mehr auf Dauerhaftigkeit, Nachhaltigkeit und stilistisches Finish seiner Produkte angelegt, nicht mehr auf «Tugenden wie Geduld und das Aufschieben von Belohnungen» (Nachwirkung, Nachruhm, Kanonisierung), vielmehr auf die Erzeugung von Ausschuss, der heute «in» und morgen «out» ist: «Werte sind Werte nur noch insofern, als sie zum sofortigen Konsum an Ort und Stelle taugen.» Statt auf Langzeitwirkung setzt die Produktion und Vermarktung von literarischer Ware auf punktuelle Effizienz (Hit, Sensation, Bestseller, Preisvergabe usf.). Die Dominanz von performativen Kunst- und Literaturformen (multimediale Lesungen, kurzfristige Installationen, improvisierte Veranstaltungen) ist Bestätigung dafür: «Dinge und Events mithin, die versprechen, nicht länger zu dauern, als man sie haben will.» 

            Dass kaum noch ein Buch die jeweilige Saison überdauert, ist bereits zur Normalität geworden und wird ohne merkliches Bedauern hingenommen. «Wir leben in einer Kultur der Auflösung, der Diskontinuität und des Vergessens», konstatiert Bauman mit endzeitlichem Pathos, und er nennt als deren vorrangiges Charakteristikum die «industrielle Produktion von Müll». Dass dies derweil ebenso für die literarische Kultur gilt, ist offenkundig, doch offenkundig ist auch, dass die Literatur diesen Prozess nicht mehr konterkariert, im Gegenteil, sie passt sich ihm weitgehend an und dient ihm zu – sie nutzt, mit Cotten & Co., die «Gunst der Stunde». Die Sprache der Werbung und die Sprache der Dichtung, der massenmediale Infantilismus und das Geschwurbel heutiger Mainstreambelletristik fallen in wechselseitigem Interesse und Wohlgefallen problemlos ineins.