Felix Philipp Ingold: LyrikText

Putin, Putinismus, Russentum

Felix Philipp Ingold im März 2022

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem exilrussischen dissidenten Schriftsteller und Philosophen Alexander Sinowjew in den mittleren 1970er Jahren. Eine Feststellung des Autors hat mich damals besonders frappiert: Der Stalinismus, meinte er, sei das für Russland ideale und einzig adäquate Regime gewesen; eine despotische Autokratie – mit einem strengen, auch strafenden «Väterchen» als Volks- und Meinungsführer – entspreche auf optimale Weise der unwandelbaren russischen «Mentalität», die angelegt und angewiesen sei auf Wegleitung, Disziplinierung, Unifizierung.

            Ich hielt dieses Statement für blanken Zynismus, heute veranlasst sie mich zu erhöhter Nachdenklichkeit. Über kollektive Mentalitäten zu reden, mag problematisch sein, doch sollte man jene selbstkritischen russischen Stimmen nicht vergessen, die viel früher schon auf entsprechende «Konstanten» der eigenen Geisteswelt verwiesen haben.

            «Das russische Volk war nicht vorzugsweise ein Volk der Kultur wie die Völker Westeuropas», schrieb der christliche Philosoph Nikolaj Berdjajew 1946 in seinem Werk über «Die russische Idee»: «Es kannte kein Mass und verfiel leicht in Extreme … Man muss es als Eigentümlichkeit der russischen Geschichte sehen, dass in ihr langezeit die Energien des Volkes gleichsam in potentiellem, nicht in aktualisiertem Zustand geblieben sind. Das russische Volk wurde niedergedrückt durch einen gewaltigen Kraftverlust, den das Übergewicht des Staates erforderte.»

            Gut ein hundert Jahre zuvor, 1836, hatte der fürstliche Querdenker Pjotr Tschaadajew in einem Offenen Brief kategorisch festgehalten: «Die geschichtliche Erfahrung existiert für uns Russen nicht; Geschlechter und Jahrhunderte sind ohne Nutzen für uns verflossen. Betrachtet man uns, so könnte man sagen, das allgemeine Gesetz der Menschheit gelte für Russland nicht. Vereinsamt in der Welt, haben wir der Welt nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keinen Gedanken in die Masse der menschlichen Ideen hineingetragen, in keinerlei Weise am Fortschritt der menschlichen Vernunft mitgewirkt, und alles, was von solchem Fortschritt zu uns gelangte, haben wir entstellt.» Ergänzend dazu ist festzuhalten, dass Russland und das Russentum weder an der europäischen Scholastik beteiligt waren, noch – im Gegensatz dazu – von der Renaissance und der Reformation berührt oder gar gewandelt worden sind.

            Tschaadajew wurde auf Grund seiner Verlautbarung (die der Vorzensur entgangen war) offiziell für «verrückt» erklärt, seine «Wahrheit» als «Verleumdung» inkriminiert; für den Rest seines Lebens blieb er mit Publikationsverbot belegt. Ihm wie auch einigen seiner späteren Denkpartner war durchaus klar, dass das Russentum einer fatalen ideellen Eigengesetzlichkeit unterliegt, die mit westlichen demokratischen Vorstellungen und Gepflogenheitern schwerlich vereinbar ist. – Der aktuell in der Russländischen Föderation am häufigsten gebrauchte schimpfwörtliche Ausdruck für «Demokratie» ist Dermokratie, was soviel heisst wie – «Scheissherrschaft».

            Die wenigen Chancen zu solcher Übereinkunft – 1904/1905, 1913/1914, 1917/1918, 1989/1991 – sind ungenutzt geblieben. Ob sich mit oder allenfalls nach dem Ukrainekrieg eine weitere diesbezügliche Chance eröffnen könnte, bleibt ungewiss, muss allerdings als unwahrscheinlich gelten. Denn nicht Putin als Person ist das Problem – das Problem ist die Schwerkraft der althergebrachten russischen Mentalität, in der sich Untertanengeist und imperiales «Allmenschentum» anstandslos verbinden. Noch heute kann sich der Präsident auf mehrheitlichen Zuspruch aus der Bevölkerung verlassen, noch heute lässt er die Stalinzeit als eine Ära des imperialen Triumphs feiern und unterdrückt gleichzeitig die Aufarbeitung des damaligen Staatsterrors.

            Alexander Dugin, einflussreicher Vordenker des Putinismus und bis heute enger Berater des Präsidenten, hat 2017 in einem erst kürzlich veröffentlichten Interview mit dem US-TV-Sender 60 Minutes bedenkenlos zugestanden: «Putin hat uns nicht seinem Autoritarismus unterworfen, wir selbst haben es von ihm gefordert.» Die Zeit nach Putin wird sich von der Zeit unter Putin nicht wesentlich unterscheiden.

           

Felix Philipp Ingold, em. o. Prof. für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands an der Universität St. Gallen/SHSS; Buchpublikation: «Todeskonzepte der russischen Moderne» (Wien 2018).

13. März 2022