Felix Philipp Ingold: LyrikText

NZZ_Serendipity > als allg geltendes Produktionsprinzip von wissenschaftl und künstlerischen Projekten

"Tugenden wie Imagination, Möglichkeitssinn, Problemkreation und gestalterischer Voluntarismus werden wichtiger als die sogenannte Rationalität. Gelegenheiten werden nicht mehr 'aufgespürt' oder Chancen 'wahrgenommen', sondern es werden Zufälle imaginiert – in der Hoffnung, Eigendynamiken und Teufelskreise liessen sich frühzeitig als solche erkennen." Thomas A. Becker, "Künstliche Intelligenz", NZZ 20.10.2018, Bl. 10

Der Zufall als Muse

Schreiben zwischen Wissenschaft und Kunst

Felix Philipp Ingold

           Als ich unlängst in einem interdisziplinären Forschungskreis ein Impulsreferat zu halten hatte, fiel mir schon bald auf, dass ein in der ersten Reihe sitzender Kollege mit gesenktem Kopf und vorgestreckten Beinen eingeschlafen war − die Arme vor der Brust gekreuzt, als wollte er den Rest der Welt von sich fernhalten. Hin und wieder schien er zu nicken, hielt aber die Augen geschlossen. Kaum hatte ich geendet, sprang der Mann auf, war sogleich hellwach, kam auf mich zu, bedankte sich für "wertvolle Anregungen", die er meinen Ausführungen entnommen habe − und entschuldigte sich für seine "Abwesenheiten" während des Vortrags.

            Es handelte sich bei dem "Abwesenden" um einen jungen, bereits namhaften Mathematiker aus Heidelberg, mit dem ich in der Folge ein ebenso angeregtes wie anregendes Gespräch führen konnte. Dabei wurde klar, dass er meine Vortragsthesen keineswegs verschlafen hatte, dass er sich vielmehr in einem Modus von unbestimmter, schwebender Aufmerksamkeit befand, die ihn keineswegs davon abhielt, meinen Überlegungen zumindest der Spur nach zu folgen und daraus immer wieder etwas abzuleiten, das eher für ihn als für mich von Interesse war. Einige meiner Punkte − mit Mathematik hatten sie nichts zu schaffen − könnten ihm, wie er versicherte, durchaus hilfreich sein bei seiner aktuellen Suche nach einer topologischen Problemlösung, an der er seit längerem arbeite, ohne ihr merklich nähergekommen zu sein. Eben solche unerwarteten Anregungs- und Anknüpfungspunkten habe er, begleitet von einem diskreten Glücksgefühl, schon mehrfach gewonnen in (und aus) einem Zustand der Zerstreuung, der vagen Erwartung, der suspendierten Aufmerksamkeit.

            Mit dieser persönlichen Erklärung des jungen Kollegen korrespondieren vergleichbare Aussagen erfahrener Naturforscher, unter ihnen diverse Nobelpreisträger der Physik, der Chemie, wonach ihre wegweisenden, radikal innovativen Entdeckungen und Theoriebildungen keineswegs durch zielorientierte Recherchen ermöglicht wurden, vielmehr durch unerwartete, gleichsam herkunftslose Einfälle − insgesamt also nicht durch nachhaltige Leistung, sondern durch plötzliche Eingebung.

            Der Molekularbiologe und Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger bricht dem Glauben an (und dem Vertrauen in) die angeblich "strengen" oder "harten" Wissenschaften definitiv die Spitze, wenn er sie auf einen hohen Anteil von "Nichtwissen" zurückführt und offen deklariert: "An mir ist fast alles zufällig." Und mehr − vielleicht auch weniger − als das: Das Gelingen eines wissenschaftlichen Experiments oder Projekts ist nicht selten das Ergebnis einer Fehlleistung, eine Erfahrungstatsache, die Samuel Beckett mit seinem oft zitierten Aufruf zu immer noch "besserem Scheitern" (to fail better) sprichwörtlich gemacht hat.

            Man mag mit Skepsis, gar mit Enttäuschung auf solche Entmächtigung beziehungsweise Entzauberung wissenschaftlichen Tuns reagieren. Dass aber der Irrtum, ja das Scheitern durchaus auch produktiv sein kann, sollte als Chance wahrgenommen und genutzt werden. Nebst dem Tun darf auch das Lassen zu seinem Recht kommen. Manch ein fruchtbarer Moment des Denkens ergibt sich auf der unberechenbaren Kippe zwischen Gewolltem und Ungewolltem. Es ist der altbekannte Moment, den man spontan − wie zahlreiche Wissenschaftsanekdoten es nahelegen − mit dem Ausruf "Heureka!" assoziiert, altgriechisch für "ich hab's gefunden"; freier übersetzt: es hat sich gefunden, ergeben, eingestellt.

            "Heureka" ist Ausdruck eines Überraschungseffekts. Die Überraschung ist um so grösser, je banaler die Begleitumstände der Entdeckung sind und je weniger sie mit der jeweils gesuchten Problemlösung zu schaffen haben. Seit der Antike häufen sich diesbezügliche Berichte und Legenden, und noch die Synthetisierung von LSD oder Viagra, die Erfindung des Teflonbelags und der Post-it-Zettel werden auf zufällige "externe" Faktoren, darunter auch hanebüchene Irrtümer, zurückgeführt.

            Der US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker und -soziologe Robert K. Merton hat für das Heureka-Phänomen in den 1960er Jahren den Begriff der serendipity (Serendipität) diskursfähig gemacht und seine Anwendungsmöglichkeiten − mit besonderer Berücksichtigung der Komponenten von "Zufall" und "Glück" − exemplarisch dargetan, nicht ohne deren scheinbare "Merkwürdigkeit", "Befremdlichkeit", ja "Blödigkeit" sowie den "unschätzbaren Wert des Irrtums" hervorzuheben. Neuerdings scheint das Phänomen der Serendipität weit über Naturwissenschaften und Technik hinaus an Interesse zu gewinnen. Zahlreiche einschlägige Abhandlungen und Veranstaltungen im interdisziplinären Einzugsbereich von Epistemologie, Wissenssoziologie, Informations- und Spieltheorie sind Beleg dafür.

            Serendipität hat mehr mit Exploration denn mit Experiment zu tun. Dieses unterscheidet sich von jenem vorab dadurch, dass es stets auf eine Vermutung, vielleicht auf eine Erwartung angelegt ist, während Serendipität, gerade umgekehrt, plan- und ziellos sich auslebt, ausgehend von dem, was jeweils (hier und jetzt) gegeben, zuhanden ist. Es ist

eine Suchbewegung ohne Programm und Itinerar, ohne fassbaren Fluchtpunkt und Horizont, ein beliebiges Nomadisieren in der realen Erfahrungswelt wie auch in den Welten des Traums, der Phantasie. "Man probiert", berichtet Hans Jörg Rheinberger aus seiner Laborerfahrung als Biochemiker, "man lässt sich auch ablenken, ist offen dafür, dass einem etwas zufällt." Der blinde Zufall kann solcherart zum produktiven Einfall mutieren.

            Dass solche und ähnliche Begriffs- oder Funktionsbestimmungen von Serendipität auch für das Kunstschaffen relevant sind, liegt auf der Hand und liesse sich, über viele Jahrhunderte hinweg, am Leitfaden von Künstlerbiographien und Künstlerlegenden reichlich dokumentieren. Seit jeher steht das Kunstwerk − seine Entstehung − im Spannungsfeld zwischen Konstruktion und Eingebung. Wenn Pablo Picasso in einem hochgemuten Diktum die Werkentstehung als einen Prozess nicht des Suchens, sondern ausschliesslich des Findens ausgibt, mag dies eine verallgemeinernde Charakterisierung seiner eigenen Arbeitsweise sein, es ist aber auch ein Hinweis darauf, dass die künstlerische Tätigkeit besonders stark von Ungewusstem und Unbewusstem bestimmt wird − eine Binsenweisheit, die durch den antiken Musenkult, das theurgische Kreativitätsverständnis wie auch durch zahllose spätere Inspirationslehren beglaubigt ist.

            Selbst der alte Gottfried Benn, Verfechter einer dezidiert formalistischen Dichtungstheorie, musste konzedieren, dass aller Kunst "ein dumpfer schöpferischer Keim" zugrunde liege, der sich dem Willen des Autors entzieht, ohne den jedoch kein Werk entstehen und bestehen kann. Die biologische Metapher steht hier für eine "dumpfe" Eingebung, die Benn selbst sicherlich für obsolet gehalten hat. Heute nun erübrigt sich der Umweg über den bildhaften Vergleich zur Vergegenwärtigung eines verborgenen schöpferischen Prinzips. Der Antagonismus zwischen einem unfassbaren irrationalen "Keim" und dem künstlerischen "Konstrukt" fällt unter dem Gesichtspunkt der Serendipität dahin.

            Was über lange Zeit als inspiriertes Schöpfertum galt, erweist sich somit als eine Art von Bastelei, die sich zufällig vorhandener, zufällig gefundener Versatzstücke bedient, um sie − nolens volens! − ins Werk zu setzen, sei's in ein hinfälliges Gelegenheitswerk, sei's in ein bleibendes Kunstwerk. Zufall und Einfall, Versuch und Irrtum werden zu Triebkräften künstlerischer Produktivität, und als solche übernehmen sie die Funktion sowohl der einstigen Musen wie auch der längst abgetretenen schöpferischen Genies, die einst "Epoche" machten.

            Vilém Flusser hat nachdrücklich auf den "Reichtum" verwiesen, den Wissenschaft wie Kunst aus "konkreten Erfahrungen" ihrer Produzenten gewinnen könne. Da wie dort gehe es um den "Versuch, das Resultat einer Arbeitshypothese aufzudecken, ohne am Resultat interessiert zu sein." Denn: "Es interessiert nur das, was sich während des Versuchs zeigt." Eine vorherige Annahme könne dabei "entweder bestätigt, widerlegt oder auch offengelassen werden", da es dem jeweiligen Autor nur noch darauf ankomme, "dass während des Schreibens ganz neue, unerwartete Aspekte" zutage treten.

            In diesem Verständnis erklärte Flusser in der Folge den "Essay" − wörtlich begriffen als "Versuch", als "Experiment" − zur einzigen Textsorte, die zeitgenössischen Ansprüchen von Wissenschafts- und Kunstliteratur genügen könne. Der Konflikt zwischen den "zwei Kulturen" (der Natur- und der Geisteswissenschaften einerseits, den Wissenschaften und den Künsten andrerseits), der bis ins ausgehende 20. Jahrhundert akut geblieben ist, dürfte inzwischen so weit beigelegt sein, dass der "Essay" tatsächlich, wie von Flusser gefordert, in sein Recht eintreten kann − als gleichermassen diskursive und narrative Form der Welterschliessung. 

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Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor in Romainmôtier-Envy; zuletzt veröffentlichte er "Direkte Rede" (Prosa, 2016), "Niemals keine Nachtmusik" (Poesie, 2017). Demnächst erscheint bei Ritterbooks der Roman "Die Blindgängerin".