Felix Philipp Ingold: LyrikText

Bildwerk und Sprachwerk - Gerhard Richter zum 90. Geburtstag

Im Februar dieses Jahres ist Gerhard Richter bei anhaltender Luzidität und Arbeitskraft neunzig geworden. Man hat den Grossmeister der aktuellen Weltkunst zu seinem Jubiläum, wie es sich gehört, mit zahlreichen Ausstellungen, Publikationen und andern Ehrungen gefeiert. Auf Jubiläen ist Richter allerdings schon längst nicht mehr angewiesen, um sich feiern zu lassen; sein bildnerisches Werk – global zu Höchstpreisen gehandelt, an führenden Kunststätten präsent gehalten, wissenschaftlich fast schon erschöpfend aufgearbeitet – kann elitären wie populären Ansprüchen gleichermassen genügen.

Richters Werk selbst – Malerei, Zeichnung, Installation – ist eine permanente Jubiläumsgabe, ein Eldorado sinnlicher Wahrnehmung und ästhetischer Erkenntnis, aber auch eine permanente Herausforderung (bis hin zur Provokation), rückgekoppelt mit den Künsten der Vergangenheit und mit diesen diskret korrespondierend, dabei in stetiger Engführung mit ausserkünstlerischer Historie und Aktualität. Ein Werk, das sich naiver Betrachtung und hermeneutischem Begehren unterschiedslos dartut und so oder anders souverän davor bestehen kann.

Wie dieses vielfältige und doch staunenswert kohärente Werk entstanden ist und weiterhin entsteht, woher es seine Triebkräfte bezieht und wie es diese konkretisiert und entfaltet, hat Richter im Gespräch mit Schülern und Kritikern oftmals ausgeführt; seine diesbezüglichen Auskünfte sind in Zeitschriften, Katalogen und andern Veröffentlichungen nachzulesen. Theoretische und didaktische Ambitionen scheint er nie gehegt zu haben, lieber berichtete er exprompt von Erfahrungen, Methoden, Zielsetzungen, Problemen, Enttäuschungen seines eigenen künstlerischen Tuns, wobei der «Kunst» stets das Handwerk («eine Art von intelligentem Kunsthandwerk») und generell die Bewerkstelligung vorgeordnet blieb – Projekt, Planung, Materialien, Verfahren, Produktion, all dies unabhängig von vorherrschenden Themen und Trends.

Anlässlich seines Geburtstags hat Gerhard Richter nun eine Auswahl eigener Interviews aus den Jahren 1993 bis 2014 in einem reich illustrierten Sammelband vorgelegt, der eindrücklich dokumentiert, wie er bei der Arbeit im Atelier oder am Bau praktisch verfährt.* Eine explizite Kunst- oder Künstlerlehre ist von den spontanen Selbstaussagen nicht herzuleiten, vereinzelte diesbezügliche Ansatzpunkte gibt es aber durchaus. Weniger mit Bildkunst als mit dem Bildsehen allgemein hat Richters mehrfaches Beharren darauf zu tun, dass gegenständliche und ungegenständliche Malerei gleichermassen als «Darstellung» wahrgenommen werden, die gegenständliche als Repräsentation ausserkünstlerischer Realien, die ungegenständliche als das, was der Betrachter durch Projektion figurativ «hineinsieht» beziehungsweise als etwas Reales imaginiert.

«Das sind Eigenschaften, die ich sehr mag», stellt Richter mit Blick auf seine eigenen ungegenständlichen Bildwerke fest: «Dass man immer etwas hineinsehen kann. Davon leben die abstrakten Bilder. Man will ja immer etwas verstehen!» Mit dieser einfachen Überlegung (die ja auch eine altbekannte wahrnehmungspsychologische Tatsache ist) eliminiert er den vermeintlichen Gegensatz zwischen Abstraktion und Darstellung zu Gunsten einer integralen Bildanschauung. Und umgekehrt kann der Künstler für sich beanspruchen, dass all seine Werke, auch die «abstrakten», auf «Mitteilung» angelegt seien: «Ja. Wir wollen immer etwas mitteilen – und wenn es unsere Zweifel sind oder unser Elend. Es muss alles raus.»

Es muss alles raus!» Das ist keine sonderlich attraktive Devise. Gerhard Richter scheint sich damit dem heute gängigen Kunstverständnis anzuschliessen, wonach private («unsere») Befindlichkeiten die Werkentstehung wesentlich mitbestimmen und im Werk selbst auch aufgehoben sein sollten. Dass aber die pauschale Aussage so nicht gemeint sein kann, ist durch Richters eigene Arbeit hinreichend belegt.

Wenn «alles raus» muss, heisst das bei ihm ja keineswegs, dass es tel quel dargestellt, «mitgeteilt», nachvollziehbar, verständlich gemacht werden soll. Persönliche «Zweifel», persönliches oder gesellschaftliches «Elend» sind nicht Stoff, sondern Motiv, Impuls seiner Bildkunst, die sich durch vielerlei Transformationen vom üblichen Darstellungsgeschäft abhebt – durch Techniken wie Übermalung, Verwischung, Spiegelung, Variation, Serialisierung.

Bestimmend für Richters bildnerische Arbeit sind nach seinem eigenen Bekunden das jeweils vorliegende Werkmaterial und das Instrumentarium für dessen Ausgestaltung. Dazu gehören einerseits Dinge wie Ansichtskarten, Zeitungsausschnitte, Kunstreproduktionen, Farbkataloge, andrerseits Pinsel, Stifte, Spachtel, Kameras, Kopiergeräte, dazu Papiere aller Art, Leinwände, Holz, Glas. Aus dem Zusammenwirken dieser Komponenten entsteht das Werk, und tatsächlich begreift Richter seine künstlerischen Hervorbringungen eher als «Gabe», als etwas, das ihm «geschenkt» wird, denn als Arbeitsprodukt – es «ergibt» sich aus einer jedes Mal einzigartigen Mischung von bewussten und unbewussten, gewollten (beziehungsweise gelenkten) und zufälligen Vorgängen: Man brauche «nur die Farben auf den Boden zu schmeissen, das geht auch, das geht alles», «wie beim Boule spielen», «werfen, neue Situationen schaffen»; aber es müsse dann eben doch «passen», also angepasst werden.

Damit vergibt Richter einen Grossteil seiner Werkherrschaft gewissermassen an seine «Muse», will heissen: an eine «Inspirationsquelle», die sich seiner Kontrolle und Lenkung entzieht. «Wenngleich die ganze Sache ziemlich professionell erscheinen mag – sie ist es nicht, denn sie ist nicht geplant oder kontrolliert: Es passiert einfach.» Oder (um es mit Daniel Buren zu sagen): «It paints!» Und damit ist noch einmal anders kundgetan, dass die Entstehung von Kunst ein simultaner Prozess von Machen und Zulassen ist, bei dem man nur «warten» kann, «bis es kommt» und bis es «fertig ist». Die «Möglichkeit» wird dadurch zu einem wesentlichen Schaffensfaktor, «dann kann plötzlich das Ding auftauchen, nach dem ich nicht gesucht habe». In seinen Interviews liefert Richter mancherlei diesbezügliche Beispiele aus seiner Arbeitspraxis; er fühlt sich darin «aufgehoben», freut sich darüber: «Man muss nicht viel denken.»

Ohne viel zu denken, entlässt der Künstler sein Werk – auf den Markt, ins Museum, in die Öffentlichkeit – und stellt fest, dass und wie es sich dadurch verändert, ja, dass es gar «plötzlich etwas ganz anderes wird, etwas, das ich ja nie beabsichtigt hatte – es ist mir sozusagen entlaufen und etwas geworden, für das ich ja gar nicht mehr kompetent bin.» Bemerkenswerte Selbstentmächtigung (oder einfach nur Demut?) eines epochalen Meisters, der das Lernen nie verlernt hat.

Von Literatur ist in Gerhard Richters Interviews kaum die Rede. Als seinen bevorzugten Schriftsteller nennt er beiläufig Thomas Bernhard, aber er lässt schon auch durchblicken, dass ihm regelmässige Zeitungs- oder Bibellektüre wichtiger ist als das Lesen von belletristischen Texten. Romane, Gedichte scheinen ihn ebenso wenig zu bildnerischer Arbeit angeregt zu haben wie Philosophie und Kunsttheorie. Dennoch lohnt sich die Überlegung, ob und inwieweit seine lakonischen Exkurse zur Werkentstehung relevant sein könnten auch für die künstlerische Literatur? Ob sich in Analogie dazu eine Poetik zumindest skizzieren liesse?

Richters Hinweise auf die gleichermassen gewollte und ungewollte Verfertigung bildnerischer Werke wie auch sein Vertrauen auf «Plötzlichkeit» und ungeahnte «Möglichkeiten» ihrer Entstehung lassen sich durchaus auf literarische Texte anwenden. Als Arbeitsmaterial hätte dann naturgemäss die Sprache zu gelten, als Verfahren das Schreiben mit seinen unterschiedlichen Techniken und seiner eigenen Dynamik. Beides – die Sprache als Vorgabe einerseits, das Schreiben als dichterisches Verfahren andrerseits – hat die gleiche Wirkkraft, wie Richter sie aus konkreter Stofflichkeit (z.B. Öl- oder Lackfarbe, Leinwand, Glas o.ä.) und aus der Geste des Malens gewinnt.

Wenn Malerei auch dort, wo sie Darstellung verunklärt oder verweigert, das Begehren nach verstehendem Sehen weckt, gilt ein Gleiches für die Dichtung, die ihre Mitteilungsfunktion zu Gunsten künstlerischer Qualitäten (Rhythmus, Melodik, Metaphorik usf.) in unterschiedlichem Ausmass reduziert beziehungsweise – wie Richter bei manchen seiner Bilder – «verwischt». Das Begehren nach verstehender Lektüre wird dadurch, nicht anders als beim Sehen, merklich verstärkt: Schwierigste Literatur provoziert die vielfältigsten und produktivsten Lesarten.

Was für Richter produktive Möglichkeit, produktiver Zufall ist («es passiert», «plötzlich stimmt es» und «ist fertig»), ergibt sich in der Dichtung auf vergleichbare Weise dort, wo sich die Sprache assoziativ als Klangmaterial entfaltet, also nicht mehr primär auf Bedeutung abhebt, sondern auf Melos, Rythmus, Variation. Daraus erwächst der von Martin Buber so genannte «Leitwortstil», der den Text unabhängig von seiner Mitteilungsebene lautlich vernetzt durch stetig sich wiederholende und immer wieder abgewandelte Klangereignisse (Assonanzen, Alliterationen usf.), die teils bewusst herbeigeführt werden, teils «wie von selbst» sich ergeben. Von der biblischen Genesis bis hin zu Paul Celan finden sich dafür beliebig viele Fallbeispiele, so viele, dass man darob ins Grübeln kommt und sich tatsächlich fragt, inwieweit sich starke Dichtung dem formbildenden Eigensinn der Sprache und … oder der Formkunst des Autors verdankt.

Wenn Gerhard Richter eben diese Frage in Bezug auf seine Malerei nachdrücklich ins Gespräch bringt, ist damit etwas Wesentliches, nicht aber etwas Neues gesagt. Denn schon im mittleren 19. Jahrhundert hat der deutsche Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge experimentell nachgewiesen, dass es natürliche Stoffe (Salze, Säuren) gibt, aus deren Mischung auf geeigneter Unterlage «Bilder» erwachsen, die ihrer Form und Farbe nach als eigenständige, naturhaft sich konstituierende «Kunstwerke» gelten können. Der Bildungstrieb der Stoffe, veranschaulicht in selbstständig gewachsenen Bildern – unter diesem Titel legte Runge 1855 die Ergebnisse seiner Versuche, dokumentiert durch zahlreiche Abbildungen, in Buchform vor (Nachdruck 2014), um seine Behauptung zu beweisen, dass er «im Stande» sei, «Bilder wachsen zu lassen!»

Die so – durch Tröpfeln vermischter Flüssigkeiten auf saugfähiges Papier – gewonnenen «Bilder» sind von bemerkenswerter Schönheit und Komplexität, stets zentralsymmetrisch ausgeformt erinnern sie bisweilen an vielfarbige Blüten, ohne ansonsten irgendetwas darzustellen; sie repräsentieren nicht, sie präsentieren sich als das, was sie sind: Produkte des natürlichen «Bildungstriebs der Stoffe», entstanden unabhängig von menschlichem Wollen und Können. Runge unterstreicht: «Indem sich die Farbe, d.h. die gefärbte Verbindung aus den chemisch entgegengesetzten Stoffen bildet, gestaltet sich das Bild.» Doch er konzediert auch, seine Entstehung sei ihm «unerklärlich, aber sie geschieht nach einem nothwendigen Gesetz».

Gerhard Richter hat diese Gesetzmässigkeit, an der Norm und Zufall gleichermassen Anteil haben, in seinen Lackbildern (lack skins, 1990er Jahre) systematisch genutzt, indem er verschiedene Lacke auf einer Platte verschüttete und deren wechselseitige Durchdringung als «Bilder» fixierte. «Das ist», meint er dazu, «schon sehr magisch und fast unfair.» Zwanzig Jahre danach arbeitete er in ähnlicher Weise mit einem Gemisch von Tusche und Benzin auf Papier. Ob er dabei an Runges Experimente dachte, sich von ihnen anregen liess, bleibt offen. Klar aber ist, dass seine bildnerischen Versuche und Erfahrungen insgesamt auch für die Sprachkunst von Interesse sind, die auf durchaus vergleichbare Art ihre Werke entstehen, sie erwachsen lässt.


*) Gerhard Richter, Interviews, herausgegeben von H. U. Obrist. Kampa Verlag, Zürich 2022.