Felix Philipp Ingold: LyrikText

Dichtung als Textil

Die oft gestellte, eher unbedarfte Frage, weshalb und wozu er «eigentlich» schreibe, hat Oskar Pastior jeweils knapp beantwortet mit der prosaischen Feststellung: «… damit Text da sei.» – Diese Antwort wäre heute, da Dichtung statt auf Formkunst primär auf Mitteilung angelegt ist, kaum noch opportun. Denn für Pastior und seinesgleichen war «Text» gleichbedeutend mit Sprache – mit der Sprache als solcher (ob geschrieben oder gesprochen) und eben nicht bloss als Medium für Gemeintes. Noch weiter ging Jorge Luis Borges, der – buddhistisch inspiriert – «das Leben» insgesamt als einen Text begriff, als eine Endlosschlaufe gewissermassen, die alle Zeiten und Kulturen durchwirkt: «In jedem Augenblick unseres Lebens weben wir und lösen wieder auf. Nicht nur unser Wille und unsere Taten bilden ein Gewebe heraus, auch unsere Halbträume, unser Schlaf, unser Halbwachen: Unaufhörlich weben wir an dieser Struktur.»

            Die Auffassung, wenn nicht gar die Definition der Dichtersprache beziehungsweise des Dichtwerks als Text lässt sich vielfach aus antiken Quellen herleiten, ist aber schon durch den Begriff selbst vorgegeben, der in diesem Fall als Metapher zu verstehen ist: lat. «textus» für Gewebe, Geflecht (von «texere», weben), speziell auch für Wortgefüge; von besonderem Interesse: «Text» geht etymologisch auf griech. «technè» (Handwerk, Kunstfertigkeit) zurück. Damit wäre der «Text» – und vollends das Gedicht – als Produkt technischer Fertigkeit ausgewiesen.

Davon ausgehend wagte einst Joseph Brodsky – in seiner Nobel Lecture von 1987 – die Behauptung, die Sprache selbst nehme die Dichter in ihren Dienst, um sich erst eigentlich als Text zu konstituieren, sich fortzuentwickeln und dabei permanent sich zu erneuern.

Der Text, das Gedicht als «Gewebe»: Realisiert man die Metapher, so kommt man zurück auf das vertraute stoffliche Produkt, bestehend aus horizontalen und vertikalen, rechtwinklig ineinander verschränkten, wechselseitig sich überlagernden Fäden. Klar wird dabei, dass durch Verschränkung und Überlagerung Höhen und Tiefen entstehen – die Fäden sind in beiden Laufrichtungen abwechselnd mal oben, mal unten, und an den Kreuzungspunkten zwischen «Kette» (horizontal) und «Schuss» (vertikal) ergeben sich kleinste, meist unsichtbare Leerstellen.

            Nun könnte man diese textile Vorgabe versuchsweise zurückbeziehen auf den Sprach- beziehungsweise Literaturtext, der ja ebenfalls diese zwei Dimensionen aufweist, nämlich die Textoberfläche (das, was dasteht) und deren Tiefendimension (die Bedeutung). Der horizontale Faden wäre demnach gegeben in Form von linear aufgereihtem Sprachmaterial, den syntaktisch geordneten Wörtern. In der Vertikale wiederum hätte man sich die Worte vorzustellen, mithin das, was mit den Wörtern gemeint (benannt, ausgedrückt, angedeutet) ist. Die beiden gegenläufigen, funktional unterschiedlichen Ebenen durchwirken einander, und erst aus dieser Wechselwirkung baut sich der Text in seiner Zweidimensionalität auf, wird als Mitteilung oder als dichterisches Statement lesbar.

Es finden sich aber auch – nebst den sich kreuzenden Fäden – Leerstellen (Löcher, Lücken) in dem Gewebe, das sich als Text zu lesen und zu verstehen gibt. Die Leerstellen sind integraler Bestandteil davon, Ergebnis der Webetechnik – ihnen kommt die wichtige, vom jeweiligen Autor unabhängige Funktion zu, der Lektüre eine dritte Dimension zu verleihen, nämlich den Frei- beziehungsweise Spielraum für die selbstbestimmte, eigensinnige Deutung des Texts insgesamt. Gäbe es solche (wenn auch winzigste) Löcher im Gewebe nicht, wäre mit dem Text immer schon alles gesagt – er liesse sich lesen, wohl auch verstehen, doch der Sinn (der nur bei interpretativ oder assoziativ praktiziertem Lesen aufkommen kann) hätte ohne jene Leerstellen keine Entfaltungsmöglichkeit.

            Was sich in der Beschreibung allzu kompliziert darstellt, ist ohne Zusatzerklärung auf einen einfachen Nenner zu bringen: Der Schreibende (als «Weber») verfertigt aus Wörtern und Worten (den Zeilen oder «Fäden») einen Text, mithin ein «Gewebe», dessen Leerstellen («Durchschüsse», «Löcher») dem Lesenden eine zusätzliche Dimension eröffnen – den Raum für die eigene Sinnbildung.

Folglich ist der Text, so verstanden, nicht bloss ein Produkt, er ist auch ein beliebig währender hermeneutischer Prozess.