Felix Philipp Ingold: LyrikText

Ideologien * Kehren wir die Perspektive doch einfach mal um: Russland könnte ja schon immer ukrainisch gewesen sein

«Konstantinopel gehört zu uns!“ Mit dieser imperialistischen Devise hat sich in den 1870er Jahren Fjodor Dostojewski, der auch ein militanter Nationalist war, in den Chor jener eingereiht, denen die „Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit“ als Vorwand für militärisches Eingreifen in Bulgarien und auf dem Balkan dienen sollte. Für Dostojewski und seinesgleichen stand fest, dass Konstantinopel (Byzanz) als „Wiege der russischen Orthodoxie“ und damit als integraler Bestandteil der russischen Geschichte wie auch des großrussischen Weltbilds zu gelten hatte.

„Die Krim gehört zu uns!“ Auch dieser nicht ganz so weitreichende Slogan, der ja nun zu einem politischen Faktum geworden ist, wird mit Rückgriff auf die Geschichte legitimiert – die Halbinsel im Schwarzen Meer habe schon immer „naturgemäß“ beziehungsweise „organisch“ zu Russland gehört, und man habe das Territorium nun eben, in Übereinstimmung mit dem mehrheitlichen „Volkswillen“, heimgeholt.

Genauso, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, argumentiert die tatarische Minderheit, die sich darauf berufen kann, die Krim einst besiedelt und zu einer blühenden Landschaft gemacht zu haben. Worauf die Großrussen entgegnen, sie hätten diese Landschaft trotz tatarischer Besetzung als „russische Erde“ kultiviert. Die offizielle Ukraine wiederum beruft sich auf die geschichtliche Tatsache, dass ihr die 1783 vom russischen Imperium annektierte Krim zur Sowjetzeit legal via Moskau zugeschlagen worden sei.

Die Macht von Kiew

Da wie dort, damals wie heute scheint es also tatsächlich in erster Instanz um die „Wiederherstellung“ einstiger territorialer Gegebenheiten und eben damit der „historischen Gerechtigkeit“ zu gehen. Dass die fraglichen Gegebenheiten vielfach von Mythen- und Legendenbildungen verschattet sind, beflügelt die akuten Querelen um Recht und Gerechtigkeit umso mehr, erschwert aber auch jeden rationalen Problemlösungsversuch. Der gegenwärtige Status der ukrainisch-russischen Beziehungen scheint jedenfalls – auf beiden Seiten – eher von pseudohistorischen Phantasmen bestimmt zu sein als von vernünftigen Argumenten.

Dass die „Wiederherstellung“ einer wie immer gearteten geschichtlichen „Gerechtigkeit“ durch die Rückforderung oder Rückeroberung von ehemaligen Staatsterritorien, die längst in andere nationale Zusammenhänge eingegangen sind, heute völlig indiskutabel ist, wird auf russischer Seite offenkundig ignoriert. Gleichwohl ist die Zahl prorussischer Sympathisanten in der Ukraine wie auch bei westlichen Rechts- und Linksparteien groß, ganz zu schweigen von der ohnehin überwiegenden Mehrheit der Gefolgsleute Präsident Putins in der Russischen Föderation. Die Befürworter einer militanten Reintegration vormaliger russischer Staatsgebiete – nicht nur der ukrainische Osten, auch Warschau und ein Großteil Polens gehörten einst dem Zarenreich an – berufen sich vorzugsweise auf die sogenannte Kiewer Rus mit der heutigen ukrainischen Hauptstadt als fürstlichem Machtzentrum, um ihre Ansprüche zu begründen: Kiew sei die „Mutter Russlands“, die „Wiege“ der russischen Orthodoxie wie auch der weltlichen russischen Kultur.

Tatsache ist, dass Kiew im 12. Jahrhundert eine der reichsten und größten Städte Europas war, wirtschaftlicher und geistlicher Mittelpunkt eines mächtigen, international vernetzten Vielfürstentums, das sich von den Steppen des südlichen Dneprgebiets über Minsk und Rjasan bis ins nördliche Nowgoroder Land erstreckte, weit genug, um den wichtigsten Handelsweg zwischen Ostsee und Schwarzem Meer unter Kontrolle zu haben – dies zu einer Zeit, da Moskau noch nicht einmal den Rang einer Stadt, geschweige denn eines Fürstenreichs besaß: Die erste Erwähnung der heutigen russischen Metropole ist auf 1147 zu datieren und bezieht sich lediglich auf eine kleine private Burg, die in der Folge ausgebaut und zur Urzelle des Moskauer Kreml wurde. Da Kiew unter dem „Tatarenjoch“ schwer zu leiden hatte und schon um 1240 von den anstürmenden Nomaden in Schutt und Asche gelegt wurde, bot sich dem inzwischen erstarkten und von der Okkupation weniger betroffenen Moskowitischen Reich die Chance, sich als neues Zentrum des Russentums zu etablieren und das Erbe Kiews – vorab die Othodoxie, aber auch Errungenschaften der Architektur und Schriftkultur – in eigenem Interesse zu übernehmen.

Der Nationalist Solschenizyn

Dass schon die alten Kiewer Fürsten ihr Staatsgebiet als „russische Lande“ bezeichnet hatten, erleichterte den Moskauer und Petersburger Nachfolgemächten die Behauptung, die Ukraine (und mit ihr auch polnische und litauische Ländereien) seien schon immer russisch gewesen. Auf diese angeblich direkte Rückverbindung bezieht sich nun, im Verein mit dem Moskauer Patriarchat, auch Wladimir Putin, um die Zugehörigkeit der ukrainischen Territorien zu Russland geltend zu machen – eine obsolete Argumentation, für die er den großrussischen Belletristen und nationalistischen Ideologen Alexander Solschenizyn als Gewährsmann aufrufen kann.

Doch die großrussisch-nationalistische Perspektive ließe sich, wenn schon von „historischer Gerechtigkeit“ die Rede ist, problemlos umkehren, mit dem Ergebnis, dass dann aus Kiewer Sicht gesagt werden könnte, das Moskauer Reich wie auch das nachfolgende Petersburger Imperium hätten ihre Wurzeln in der Ukraine, von der sie sprachlich, konfessionell und zivilisatorisch zutiefst geprägt seien.

Tatsächlich gibt es zahlreiche ukrainische Nationalisten, für die Russland lediglich ein ausgedehntes halbasiatisches Hinterland ist, das sich nach seinem späten Eintritt in die Geschichte auf Kosten und zum Leidwesen Kiews zu einer repressiven Großmacht entwickelt und die Ukraine für Jahrhunderte als „Kleinrussland“ missachtet und ausgebeutet hat. Ein ukrainischer Patriot zu sein, ist angesichts der Verflechtungen mit so verschiedenartigen Nachbarvölkern wie den Litauern, den Moldawiern, den römisch-katholischen Polen, den griechisch-katholischen Ruthenen oder auch den im polnisch-ukrainischen Grenzland (Galizien, Wolhynien) ansässigen Juden eine naturgemäß problematische Angelegenheit.

Das Fremde

Dass diese Problematik für manche Ukrainer – allen voran Kunstschaffende und Intellektuelle – zum Anlass für erhöhte Toleranz wurde und zur produktiven Nutzung des „Fremden“ führte, wäre mit zahlreichen Fallbeispielen zu belegen. Hingewiesen sei hier bloß auf den ukrainischen Nationalschriftsteller Iwan Franko, der als Galizier aus dem damaligen k. u. k. Österreich stammte, Ukrainisch, Polnisch, Deutsch gleichermaßen beherrschte, sich aber als „internationalistisch“ gesinnter ukrainischer Patriot in seiner Heimat nur gegen große Widerstände durchsetzen konnte.

Ein anderes, weit bekannteres Beispiel gibt Nikolai Gogol ab, der als Ukrainer zu einem Klassiker der russischen Erzählkunst avancieren konnte, weil er durch die Ukrainisierung des Russischen ein völlig neuartiges literarisches Idiom schuf, das für gut ein Jahrhundert – von Dostojewski und Leskow bis hin zu Andrei Bely und Boris Pilnjak – vorbildlich blieb. Gogol wird in Russland bis heute bedenkenlos als „einheimischer“ Autor rubriziert, doch als solchen könnte ihn durchaus auch die Ukraine beanspruchen – viele ukrainische Literaten schreiben russisch (oder sind zweisprachig: ukrainisch-russisch beziehungsweise ukrainisch-polnisch), ohne deswegen mindere Patrioten zu sein.

Betrachtete man die russische Belletristik unter diesem Gesichtspunkt, müsste auch eine lange Reihe herausragender Autoren der „russischen“ Moderne der ukrainischen Literatur zugeschlagen werden – so Isaak Babel, Sigismund Krschischanwoski, Michail Bulgakow, Wassili Grossman. Als „Sowjetschriftsteller“ sind diese (wie auch zahlreiche andere) Autoren ungeachtet ihrer ukrainischen Herkunft in die Literaturgeschichte Russlands eingegangen, Autoren übrigens, die allesamt der stalinistischen Kulturvernichtung zum Opfer gefallen sind und die erst nach dem 20. Parteitag der KPdSU, 1956, allmählich rehabilitiert wurden, und dies – wohlverstanden – unter der Ägide des neuen, aus der Ukraine stammenden Ersten Sekretärs und Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow.

Mit Blick zurück auf die künstlerische Moderne Russlands insgesamt und auf die Innovationsleistungen der revolutionären Avantgarde kann man über den Beitrag ukrainischer Kunstschaffender nur staunen: Was schon immer unter dem Stichwort Avantgarde subsumiert wurde, ist zu einem guten Teil als singuläre Kulturleistung der Ukraine gutzuschreiben. Ukrainischer Herkunft waren Dawid Burljuk (Wortführer des Kubofuturismus), Alexander Schewtschenko (Wortführer des Neoprimitivismus), Kasimir Malewitsch (Begründer und Theoretiker des Suprematismus), El Lissitzky (Wortführer des Konstruktivismus), Sonia Delaunay-Terk (Mitbegründerin des Orphismus), Alexandra Exter (führende kubofuturistische Malerin und Designerin) und viele andere mehr.

Dazu kommen führende ukrainische Intellektuelle wie Nikolai Berdjajew, Leo Schestow, Sergei Bulgakow, die im vorrevolutionären Kiew wesentlich zur internationalen Anerkennung der „russischen“ philosophischen Kultur beigetragen haben und von denen gleichwohl niemand sagen würde (oder auch bloß wüsste), dass sie Ukrainer sind.

Das trifft im Übrigen gleichermaßen auf manch einen zeitgenössischen russischen Literaten ukrainischer Herkunft zu, auf Eduard Limonow wie auf Andrej Kurkow, doch niemand in der Ukraine hat oder hätte die Ambition, die einheimischen, russisch schreibenden Autoren für die Nation oder auch nur für die Nationalliteratur zu beanspruchen. Warum eigentlich nicht? Wie kommt es, dass sich eigenständige, oftmals höchst innovative ukrainische Kunstschaffende mit fast schon irritierender Selbstverständlichkeit von der großrussischen Kulturszene vereinnahmen lassen, obwohl sie doch viele gute Gründe hätten, ihre eigenen Leistungen herauszustellen? Hat die Ukraine womöglich ihren während Jahrhunderten erzwungenen „kleinrussischen“ Status in Bezug auf „Großrussland“ verinnerlicht? Die Frage wird kaum je ernsthaft zur Diskussion gestellt. Bedenkenswert ist sie aber.


Felix Philipp Ingold, 12.05.2014 | 06:00 10 | freitag.de