Felix Philipp Ingold: LyrikText

Man kann die Zeit nicht beherrschen, doch beherrscht auch uns die Zeit nicht gänzlich.

Es kommt vor, dass der Zeitfaden abbricht. Dieser momentane Bruch geschieht gemeinhin dann, wenn der Faden zu sehr gespannt ist; ein gleich wieder vergessener Vorfall.

Ist’s aber tatsächlich ein Vorfall?

Wenn es denn vielleicht im Verlauf unseres Lebens einige Sekunden gibt, die der Zeit entzogen bleiben: ein Schrei, ein Blutwort, das die Zeit allein nicht hat unterdrücken können. Das ist die schmerzlichste - aber auch die kostbarste - Gabe, die die Kreatur der Ewigkeit darbringen kann.

Hätte man eine Vorstellung davon? Ein rotes Rinnsal, das die von ihm im Raum gezogene Grenze überflutet; bleibt kaum eine Spur von so rasch geschwärztem, rasch verblasstem Blut, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht einmal mehr zu erkennen ist.

Grenzen des Sichtbaren und des Unsichtbaren.

An eben diesen Grenzen finde ich zu Chillida zurück! Warum? - Auf Grund zweier Erfahrungen vielleicht, die ich mit ihm erleben durfte.

Zwei Erfahrungen, denen ich heute einen andern Zugang zu den Skulpturen und Graphiken dieses Künstlers verdanke.

Ich glaube einzig an die gelebte Erfahrung.

Ich vermag einzig und allein von dem zu reden, was in mein Leben eingegangen ist und es bereichert, berauscht oder geschlissen hat.

Mein Kriterium? - das Erleben; das innere Gehör, der vom Blick geläuterte Blick und letztlich die Ergründung der Leichtigkeit im Zentrum der Schwerkraft. Wohltat der Luft. Wunder des Alls.

Ja, durch welches Wunder wird eine in der Schwerkraft befangene Form plötzlich so leicht, dass sie ganz Luft ist? Vielleicht deshalb, weil die Welt, wie wir selbst, nicht schwerer wiegt als eine Feder.

Diese äusserste Leichtigkeit - es ist die der Seele - gilt es zurückzugewinnen, den Atem zu wecken in der Masse alles Beharrenden. Durchatmen. Atem geben, leben und sterben können mit dem Quentchen geteilten Lebens, das erstehen lässt, was ins Leben gerufen ist, und das dem Erstandenen Dauer verleiht.

Ich habe auf die Erfahrung verwiesen. Ich habe den Atem erwähnt.

Wir irren durch eine Welt, deren Atmung wir die unsre beimengen.

Und wenn der Blick schlicht das Aufeinandertreffen zweier Atmungen wäre?

Was bedeuten würde, dass auch das Auge eine Lunge hat, ein Herz, dessen Schläge uns dazu verhülfen, im Rhythmus des Alls zu sehen, zu hören, zu handeln; uns fortzubewegen mit dem, was schreitet, uns zu erheben mit dem, was fliegt.

Und wenn dieses Vermögen nur einfach Schöpfung wäre? Schaffen hiesse demnach bloss, der eigenen Atmung Form zu geben.

Jedes Hindernis hat seinen schwachen Punkt. Dieser gibt immer dann nach, wenn das Unbekannte sich einstellt.

Und wenn dieser Punkt, als solcher, ein Kreis wäre? In seinem Innern wäre die Leere.

Und wenn der Kreis die Mitte - unbegrenzte Leere - eines hypothetischen Kreises wäre, der ihn verschlingt?

Kein Schöpfer kann diesen unbestimmbaren und dennoch bestimmten Punkt bearbeiten. Er wird von ihm bearbeitet. Gerade so weit, dass er sich daran erinnert, dass allein die Leere, auf die ihn das Werk noch jedesmal verweist, damit er sich ihr entgegenstelle, das All zu tragen vermag. Der Künstler vermöchte sie nur dadurch zu meistern, dass er sie auf sich nimmt, dass er bereit ist - aber geht es hier um Bereitschaft? - selbst diese Leere zu werden, in der das Werk sich entfaltet und auf die es sich abstützt. 

Gegen diese Leere, mit dieser Leere lebt und arbeitet Chillida.

Ich denke im besondern an jenes graphische Blatt, das er zu drei meiner Aphorismen geschaffen hat.

Es handelte sich um ein grosses rechteckiges Plakat, auf dem Schrift und Bild einander gegenübertraten.

Ganz oben hatte Chillida eine schwarze - allerdings mattschwarze - Form von wundersamer geometrischer Strenge graviert, die sich ins Weiss des Papiers einzusenken schien, wiewohl sie auf sich selbst hin offen blieb, als sollte sie gleich im Beginn anzeigen, dass der Raum sich niemals vollumfänglich fassen lässt.

Von diesem Satz, der ihn vermutlich als erster hatte einhalten lassen, ging er aus.

»Was sich nicht fassen lässt, ist ewig.«

Hielt er diese dichte Form für überlastig? War er plötzlich befangen angesichts ihres nachtschwarzen Gewichts und der unausgeglichenen Stelle, die sie einnahm?


Ein weiterer Aphorismus gewann damals, wie ich glaube, seine Aufmerksamkeit.

»Der erste Atem kommt aus der entferntesten Vergangenheit. Der zweite Atem hat ihm seine laue Wärme zu verdanken.«

Und das Wunder wurde Ereignis. An solchen Funden ist das künstlerische Genie zu erkennen. Er liess dem Atem Raum - einen Millimetersaum von Weisse als Rand,  um die solcherart ausgeschnittene Zeichnung gleichsam loszulösen vom Blatt.

Unlängst - und dies ist die zweite Erfahrung, an der ich teilhatte - : ein herauszugebendes Buch, die Begegnung eines Künstlers und eines Schriftstellers im Zeichen der Hand.* Ich rede nicht von Chillidas Zeichnungen, vielmehr von der anonymen Kupferplatte, die er gravierte und die er nicht bloss für den Druck seiner Gravur nutzte, sondern auch, darüber hinaus, um sich vorzutasten zu allem Unausdrückbaren, allem Unausgedrückten künstlerischen Schaffens. Wie das? Einfach dadurch, dass er den starren Rahmen der mit dem Bild übereinstimmenden Platte - Weiss eingelassen ins Weisse - anpasste und durch diesen Eingriff seine letzte, bereits unsichtbare Spur festschrieb ...

 *) Edmond Jabès, La mémoire et la main, illustré par Edoardo Chillida, Editions fata morgana, Montpellier 1987; deutsch von Felix Philipp Ingold u.d.T. Das Gedächtnis und die Hand, Münster 1992.