Felix Philipp Ingold: LyrikText

Prägende Lektüren
Sieben frühe Faszinationen

1) Johann Georg Hamann, “Aesthetica in nuce”, zusammengekürzt auf zwei Druckseiten im gymnasialen Lesebuch – meine frühste und stärkste Prägung in Sachen Sprache und Literatur; ich war fasziniert von der Selbstverständlichkeit, mit der Hamann in diesem Traktat zwischen mehreren Sprachen (Latein, Griechisch, Hebräisch, Deutsch, Englisch) hin und her wechselt, beeindruckt von Leitsätzen wie, die Poesie sei die «Muttersprache» der Menschheit, man rede, um gesehen zu werden, und man übersetze, indem man schreibe, aber auch, man könne durchaus «ein Mensch sein, ohne dass man nötig hat, ein Autor zu werden».

2) Ludwig Hohls «Notizen», deren Erstausgabe ich auf meiner Abiturreise in der Wühlkiste eines Wiener Antquariats entdeckt habe – starke, ungehobelte Prosa; mal gelassenes Nachdenken, mal polemisches Verdikt über Gott und die Welt; Schreiben gleichermassen als Geistesübung und Körpereinsatz; dazu die bleibende Warnung: «Das wirklich Gedichtete ist eben das Gegenteil vom Erdichteten.»

3) Hermann Brochs «Tod des Vergil» – gelesen mit 17, hingerissen vom rhythmisierten Sprachstrom, begeistert von der pathetischen Metaphorik und den zahllosen Neologismen, beiläufig belehrt vom kenntnisreichen Autor über die römische Antike; greife ich heute auf das Buch zurück, bin ich irritiert von dem grossspurigen, graphomanisch zelebrierten Kitsch.

4) William Shakespeare, «The Sonnets» – seit langem mein Allbuch; ich lese (und übersetze) die Sonette als Shakespeares kleine Dramen; in formaler Hinsicht wie inhaltlich eine einzigartige Akkumulation von Können, Wissen, Erfahrung, Intuition; die produktivste Vorschule allen dichterischen Wollens und Tuns.

5) Stéphane Mallarmé, «Divagations» – deutsch vielleicht wiederzugeben mit «Irrungen», «Wirrungen»; ein Buch von der Art («uneins und bar jeder Architektur»), die der Autor selbst nicht mochte; eine Sammlung heterogener Texte (Prosagedichte, Autorenportraits, Mikroessays, Anekdoten, Träumereien, Traktate, Lese-, Theater- und Modenotizen), ein Werk aus lauter Versatzstücken, als «Buch» zusammengehalten auf stets gleichbleibender (höchster) Stilebene; Verständlichkeit verweigernd und gleichzeitig das Verstehen provozierend; ein Buch, das immer nur für morgen geschrieben sein wird.

6) Vladimir Nabokov, «Pale Fire» – ein anspielungsreiches Langgedicht, verfasst in 999 Versen von einem fiktiven Autor (der zugleich der reale Autor ist, also Nabokov) und weitläufig kommentiert (in Form eines Romans!) von einem ebenfalls fiktiven Interpreten; ein Buch von elitärem literarischem Anspruch, dennoch ein ungetrübtes Lesevergnügen dank Nabokovs erzählerischer Lockerheit, seinem Sprachwitz, seiner Selbstironie.

7) Ein Buch, dass ich nicht gelesen und auch nicht geschrieben habe, das ich aber hätte schreiben wollen – bei Paul Valéry (Faust III) fand ich schon früh das Projekt dazu: «Das Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äusserster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst …»

(notiert im Juli 2023)