(1933-2023)
Mit Hans-Jost Frey ist dieser Tage, 90-jährig, ein unvergleichlich kundiger und findiger Leser internationaler Dichtung von uns gegangen – von uns, die seinen strengen Lektionen mit reichem Erkenntnisgewinn und vielen Oh’s und Ah’s gefolgt sind.
Tatsächlich war Frey in erster Instanz ein exzellenter Leser, fokussiert auf das, was er als Text vorfand – ein sprachliches Gebilde, grammatisch, syntaktisch, rhythmisch und lautlich mit Bedacht gefügt: Träger seiner Bedeutung und Prämisse unseres Verstehens. Nicht (wie üblich) zwischen den Zeilen oder hinter dem Text hat er seine Lektürefrüchte geborgen, sondern unmittelbar aus dem, was Schwarz auf Weiss gegeben ist, aus der Konstellation der Wörter, der Struktur des Satzbaus, dem Klangleib des Werks insgesamt.
Von daher erklärt sich wohl seine Zurückhaltung gegenüber einschlägiger Sekundärliteratur wie auch seine Scheu vor auktorialen Auftritten. Im Literaturbetrieb – bei Festivals, Buchmessen, Podien, Workshops – war Hans-Jost Frey einzig und bestenfalls durch seine Abwesenheit präsent: Als Autor hielt er sich hinter seinen Büchern zurück, um desto deutlicher und authentischer die von ihm verhandelten Texte zur Geltung zu bringen – europäische Dichtung von Hölderlin über Mallarmé und Rilke bis Celan unter diversen Gesichtspunkten (Versifikation, Metaphernbildung, Übersetzung), Prosa von Stendhal, Flaubert, Melville, Poetik von Blanchot, Paulhan und de Man usf.
In seinem vielleicht stärksten und schönsten Werk, einem Lektürebericht zu Dantes Göttlicher Komödie (2008), bringt Frey noch einmal auf den Punkt, worauf es ihm als Leser vorrangig ankam. Künstlerische Literatur, so hält er resümierend fest, sei nicht nur, wie üblich, auf das darin Mitgeteilte hin zu befragen, sondern darauf, was sie zu verstehen gibt und wie sie es tut.
«Da dies voraussetzt, dass man den Wortlaut ernst nimmt, ist die Beschäftigung mit begrenzten Texteinheiten häufig die beste Möglichkeit zu entdecken, wie das Undurchschaubare des Sprachvorgangs durch die Ordnung der Konstruktion scheint». Denn «die Poesie geht immer weiter als was sie sagt», nämlich «darüber hinaus zu sich selbst als der Ermöglichung, es zu sagen».
Und ein Gleiches aus der Erfahrung des Schreibenden: «Wer dichtet, ist einerseits bemüht oder auch gezwungen, etwas zu sagen, und anderseits immer gleichzeitig auf die Sprache ausgerichtet, die zu sagen erlaubt oder zwingt, und die er als solche zu seinem Gegenstand macht.»
Siehe von Hans-Jost Frey, «Der unendliche Text» (1990), «Die Autorität der Sprache» (1999); «Dante» (2008).
2023-02-20 © Felix Philipp Ingold & Planetlyrik