Felix Philipp Ingold: LyrikText

Chatbot gegen Autorschaft

Dichtung in der Defensive *

Nebst grossem Applaus und mancherlei Hoffnungen hat der unlängst lancierte ChatbotGPT sofort auch viele Befürchtungen geweckt: Diverse textbasierte Berufszweige und Produktionsweisen sollen durch die neue weltweit verfügbare künstliche Intelligenz von Verdrängung, wenn nicht vom Verschwinden bedroht sein. Solcher Bedrohung seien nicht zuletzt Publizisten, Werbetexter und Literaten ausgesetzt, deren auktoriale Souveränität schon bald abgelöst werden könnte durch autopoetische, völlig unpersönliche Textproduktion. Texte unterschiedlichster Art – Gutachten, Geschäftsberichte, Versicherungspolicen, Gerichtsakten, Sitzungsprotokolle, aber auch Kolumnen, Reportagen oder Rezensionen – bräuchten dann nicht mehr eigens abgefasst zu werden, es genügte, sie durch Eingabe entsprechender Stich- und Leitwörter via Chatbot erstellen zu lassen und sie danach allenfalls zu lektorieren.

Das System ChatbotGTP führt Milliarden von Parametern zusammen, die es laufend aus dem Internet gewinnt und in wechselnden Konstellationen zum Abruf bereithält, es ist also gleichermassen konservativ (durch Archivierung) und produktiv (durch Komputierung) der erfassten Daten. Die sogenannte «schöne» Literatur – Belletristik, Drama, Poesie – steht hier naturgemäss vor besonderen Herausforderungen, und vorab steht sie den Voraussetzungen und Möglichkeiten des Chatbot entgegen, so wie umgekehrt der Chatbot aller künstlerischen Literatur entgegensteht.

            Denn das funktionale Grundprinzip dieses Texterzeugungssystems hebt auf Wahrscheinlichkeit und Plausibilität ab, indem es primär den Kriterien der Häufigkeitsverteilung und Rekurrenz folgt. In Reaktion auf eingegebene Fragen oder Forderungen liefert der Chatbot tatsächlich in jedem Fall die plausibelste und wahrscheinlichste Antwort – das Geläufige hat Vorrang, derweil gewollt Eigenartiges, Sperriges, Innovatives, vielleicht auch Absurdes oder Falsches zu Gunsten normal temperierter Rede ausgesteuert wird. Das System lernt laufend aus seinen eigenen Fehlleistungen, so dass Abweichungen, Widersprüche, Überraschungen mehr und mehr, irgendwann womöglich ganz ausbleiben.

Mit der Chatbot-Technik mag die gewohnte Gebrauchssprache perfektioniert werden, zugleich wird sie jedoch notwendigerweise auch mediokrisiert, weil das System unaufhaltsam die Anpassung ans Mittelmass (ebenso wie ans Gleichmass) betreibt: Nivellierung und Unifizierung. Die Literatur (zumindest die künstlerisch relevante Literatur) verfährt gerade umgekehrt – ihre Ambition ist nicht Anpassung und Gleichmass in Bezug auf die übliche Sprachverwendung, sondern Abkehr davon. Auf allen Funktionsebenen – von der Grammatik bis zur Metaphorik – hat bei literarischen Texten die Normabweichung (oder der Normbruch) Vorrang vor der Einhaltung bestehender Konventionen. Auch Erwartungen, inhaltliche wie formale, werden eher enttäuscht als erfüllt, das Unwahrscheinliche wird gegenüber dem Wahrscheinlichen und Plausiblen aufgewertet. Das betrifft die Wortwahl und Wortfolge ebenso wie den Motiv- und Handlungsaufbau.

            Dazu kommt, dass der Output von ChatbotGTP quantitativ verhältnismässig beschränkt ist. Vorzugsweise produziert er, ausgehend von der Art und Anzahl der eingegebenen Daten, Texte kleineren Umfangs. Ein Sachbuch oder einen Roman über Hunderte von Druckseiten vermag er vorerst nicht auszuarbeiten, es sei denn mit zahllosen Wiederholungen, Pleonasmen und Ungereimtheiten. Auch geht ihm die Fähigkeit ab, einen Text in irgendeiner Form zu individualisieren beziehungsweise überhaupt so etwas wie einen Personalstil zu entwickeln.

Klar ist bereits, dass der ChatbotGTB (der ja dem Begriff nach bloss eine «Plaudertasche» sein will) literarischen Ansprüchen noch nicht genügen kann und vermutlich nie genügen wird; er kann es auch deshalb nicht, weil er für so elementare rhetorische Funktionen wie Ironie, Parodie, Anspielung, Wortspiel, Irreführung, Schmeichelei, Verführung, Lüge u.a.m. kein einsatzfähiges Register hat, geschweige denn für jene sprachlichen Verfahren, die in der Lyrik so oft und so vielfältig praktiziert werden, um Unausgesprochenes beziehungsweise Unaussprechliches in Worte zu fassen – jenes schwebende Ich-weiss-nicht-was, das die Faszination aller starken Dichtung ausmacht.

*) Siehe dazu auch Skorpioversa «Gekünstelte Intelligenz» (1-4), Januar/Februar 2023.

2023-03-03