Felix Philipp Ingold: LyrikText

Lesung und Lektüre

In einer Moskauer Privatwohnung fand Ende Januar 1918 eine Gemeinschaftslesung statt, an der sich ein gutes Dutzend bemerkenswerter Lyriker beteiligten, darunter Koryphäen des damaligen Literaturbetriebs wie Konstantin Balmont, Andrej Belyj oder Aleksej Tolstoj, aber auch jüngere Autoren wie Boris Pasternak, Wera Inber und Ilja Ehrenburg, die sich mit revolutionärem Elan für eine zeitgemäss «engagierte» Dichtung stark machten.

      Als jüngster und deshalb als letzter Teilnehmer hatte bei der Lesung der futuristische Neutöner Wladimir Majakowskij seinen Auftritt. Stehend trug er unter dem Titel «Mensch» ein Poem vor, das er in den Jahren 1916 bis 1917 erarbeitet hatte und das nun, in definitiver Fassung, auf 942 Zeilen angewachsen war – Zeilen in ständig wechselnder metrischer Gestalt und oftmals lediglich aus einem Wort, einer Silbe bestehend. Insgesamt ein formal heterogenes, auch thematisch widersprüchliches Dichtwerk, dessen Rhetorik alle Register zwischen Alltagssprache, Bibelsprache, Volkspoesie, Slang und hoher Lyrik umgreift.

Der schlichte Werktitel, «Mensch» (russisch «Tschelowek»), ist ebenso ambivalent wie das Poem als solches. Da das Russische keinen bestimmten oder unbestimmten Artikel kennt, könnte man ihn – jedesmal korrekt – auf dreierlei Weise übersetzen: «Der Mensch» (heisst: jeder Mensch, die Menschen), «Ein Mensch» (heisst: so ein Mensch, dieser Mensch, ein Mensch wie ich) oder «Mensch!» (heisst: du, Mann!). Adäquat wäre hier «Ein Mensch», im Verständnis von: ecce homo – seht her, das bin ich! Doch gerade diese Übersetzung ist im Deutschen bisher nicht verwendet worden.

 

 

Majakowskijs «Mensch»-Gedicht beginnt (in Rohübersetzung) mit diesen Versen:

 

Der Sonne Hand auf meinem Haupt – Hand des Erzpriesters der Welt, des Vergebers aller Sünden.

            Der Ornat der allerfrommsten klöstlerlichen Nacht auf meinen Schultern.

            Ich küsse das tausendseitige Evangelium der Tage meiner Liebe.

 

Und es endet wie folgt:

 

Weite,

aufnimm den Unbehausten

erneut

in deinen Schoss!

Was für ein Himmel derzeit?

Für welchen Stern?

Mit einem Tausend Kirchen

zog mich hinab

und zieht

die Welt:

«Mit den Heiligen gib Ruh!»

 

Dazwischen liest man Strophen wie diese:

 

Mein Herz reisst sich um den Schuss,

Und die Rasur treibt meine Kehle zum Wahnsinn.

Im irren dämonischen Wahn

Wächst meine Sehnsucht.

Treibt mich voran, lockt mich zum Wasser,

Führt mich zum Dachrand.

 

Oder auch:

 

Schärfer kann mein Schmerz nicht sein –

Da steh ich, vom Feuer umschlungen,

In der unauslöschlichen Brunst

Meiner undenkbaren Liebe.

 

Wladimir Majakowskijs «Mensch!» ist ein zugleich grosssprecherisches und kleinlautes Dichtwerk, das man lediglich der Form nach als «revolutionär» bezeichnen kann. Geradezu exhibitionistisch, bis hin zu expliziten Suizidgedanken, gibt sich das lyrische Ich in seiner Zerknirschung und seinem «dämonischen Wahn» zu erkennen – seine «Revolution» ist die Liebe, und diese bleibt unerreichbar, unerfüllt, ja, sie lässt sich nicht einmal denken. Wenige Wochen nach der bolschewistischen Machtergreifung nimmt sich hier Majakowskij als Sympathisant des neuen Regimes die Freiheit, in Hunderten von Versen sich selbst in den Vordergrund zu rücken, ganz unheroisch, in der tragischen Pose eines weltfernen Romantikers und mit dem althergebrachten Thema der enttäuschten Liebessehnsucht.

Es gibt bei Majakowskij zahlreiche weitere, depressiv verstimmte Liebesgedichte, aber gleichzeitig ebenso zahlreiche polemisch oder propagandistisch zugespitzte Agitationsverse, die das verletzte Ich völlig vergessen lassen hinter dem heraufkommenden Wir des Proletariats. Warum er für die erwähnte Lesung einen Text ausgewählt hat, mit dem er sich bei all seiner destruktiven Wortgewalt und entgegen seinem ruppigen Image, als feinfühliger und aufrichtiger Beobachter seiner selbst in Szene setzen konnte, bleibt unklar.

Klar ist aber, dass sein damaliges, höchst anspruchsvolles Publikum seinen Auftritt mit enthusiastischem Applaus quittiert hat. Von Ehrenburg und Pasternak liegen dazu übereinstimmende Zeitzeugnisse vor, letzterer bezeichnete das «Mensch!»-Poem pauschal als «ein von ungewöhnlicher Tiefe und erhabenem Schwung erfülltes Gedicht».

 

 

Heute, knapp hundert Jahre nach Wladimir Majakowskijs denkwürdiger Lesung in Moskau, liesse sich eine vergleichbare Veranstaltung mit vergleichbarer Wirkung nicht mehr durchführen – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Allein schon die Prämisse, dass ein Dutzend führender, dabei sehr gegensätzlicher Autoren in einer privaten Wohnung zusammenkommen, um ohne Honorar, ohne zahlendes Publikum und ohne mediale Begleitung eigene Texte vorzutragen, ist nicht mehr vorstellbar; ebenso wenig, dass bei einem derartigen Anlass schwierigste Gedichte vorgetragen und allseits mit Begeisterung aufgenommen werden, und noch weniger kann man sich vorstellen, dass darüber Jahrzehnte später in Buchform berichtet würde, wie Pasternak in seinem «Geleitbrief» (1931) und Ehrenburg in «Menschen, Jahre, Leben» (1961-1966) es in ungetrübter Erinnerung daran getan haben.

Die Reminiszenz von 1918 steht im Übrigen nicht für einen Einzelfall – Lesungen im Privatkreis (in Salons, Ateliers oder bei regelmässigen Zusammenkünften) waren damals in Russland gang und gäbe, auch wenn sie nach der Revolution schon bald abgelöst wurden durch Massenveranstaltungen in Konzertsälen und Sportstadien. Als neu aufkommende Medien boten sich zusätzlich Radio und Film für die Verbreitung dichterischer Texte an. Wladimir Majakowskij gehörte zu den ersten sowjetischen Literaten, die eben diese Podien gezielt für sich nutzten, abgesehen davon, dass er auch als Erster die grossangelegte, professionell organisierte Lesereise in den Literaturbetrieb einführte.

 

 

Als literarische Darbietungsform ist die Lesung ein ambivalentes Verfahren. Wenn noch im Mittelalter die Lektüre auch ohne Publikum als lautes Vor-sich-hin-Lesen praktiziert wurde, blieben in der Folgezeit (derweil das Selbst-Lesen verstummte) nur noch zwei andere Lesarten in Gebrauch, nämlich das Vorlesen von fremden Texten durch einen Sprecher und das Lesen eigener Texte durch den Autor. In beiden Fällen gerät die Intonation zu einer subtilen Form von Interpretation. Liest der Autor selbst, ist dieser Gewinn naturgemäss besonders gross, selbst dann, wenn die Lesung rhetorisch unbefriedigend ist.

Wer einen unbekannten, vielleicht gar unveröffentlichten Text vorgelesen bekommt, ist mit einer einmaligen, ausschliesslich akustischen Gegebenheit konfrontiert, während andrerseits gedruckte Texte verschiedenste Lektüren ermöglichen; sie können vollumfänglich, auszugsweise oder diagonal gelesen werden, die Lektüre lässt sich nach Belieben abbrechen oder auch wiederholen – lauter Freiheiten, die bei Publikumslesungen verloren gehen.