Felix Philipp Ingold: LyrikText

3D seit je

Das Gedicht ist ein mehrdimensionales Gebilde

 

Heutige 3D-Drucker liefern Zahn- und Brustprothesen, Ess- und Operationsbesteck, Autobestandteile, Fensterrahmen, Aschenbecher, Designerschmuck und vieles mehr; Gedichte lassen sich damit nicht ausdrucken.

Doch Gedichte brauchen gar nicht erst mehrdimensional ausgedruckt zu werden, denn mehrdimensional sind sie ohnehin. Als Sprach- und Schriftobjekte können sie gleichermassen akustisch, optisch und semantisch wahrgenommen werden. Entbehrlich ist einzig – bei mündlicher Verlautbarung – die optische Dimension, so in schriftlosen Texten wie dem Volks- oder Heldenepos, neuerdings auch in der Rap und Slam Poetry.

Dass das verschriftlichte Gedicht, um gelesen und verstanden zu werden, vorab gesehen werden muss, ist eine triviale Feststellung, die allerdings bei der Lektüre meistens vergessen wird. Dichter wie Wladimir Majakowskij («Treppenverse»), Stefan George, André du Bouchet haben darauf aufmerksam gemacht, indem sie ihre Texte in einer eigens erarbeiteten Typographie erscheinen liessen. Ein Gedicht gesehen zu haben, heisst aber keineswegs, dass man es auch gelesen oder gar verstanden hat.

 

3D seit je

 

Den Vorrang des Bild-Sehens vor dem Text-Lesen haben in Bezug auf das neuzeitliche Gedicht zuerst die Futuristen und Dadaisten durchgesetzt, indem sie die Druck-, Stempel-, Klebe- oder Handschrift als solche herausstellten, als konkrete Schriftzeichen ohne Wort- oder Satzbezug, rein bildhaft, frei von sprachlichen Regeln und vorgegebener Bedeutung: Synthese von Graphik und Text (vgl. Abb. oben, lettristisches Gedicht von Raoul Hausmann, links, sowie dessen akustische Realisierung; 1919); später holten die Vertreter der sogenannten visuellen Poesie (mit Garnier, Williams, Rühm u.a.) den Sprach- beziehungsweise Schrifttext ins Gedicht zurück und machten ihn damit gleichermassen sichtbar wie lesbar. – Die derzeitige Dichtung scheint sich dieser Dreidimensionalität nicht mehr so recht bewusst zu sein, operiert jedenfalls kaum noch damit. Man ist zur konventionellen typographischen Gestalt des Gedichts zurückgekehrt und hält mehrheitlich daran fest: linksbündig, Flattersatz.

 

Rezeption und Wirkung (Verständnis) des Gedichts beruhen im Normalfall auf den internen Wechselbeziehungen zwischen Sprachtext (Grammatik, Syntax, Metaphorik), Akustik (Melodik, Metrik, Rhythmus) und Optik (Schrifttyp, Schriftbild), die ihrerseits – insgesamt – für die Bedeutung (Verständnis, auch Missverständnis, Unverständnis) grundlegend sind. Von daher ist das Gedicht tatsächlich als ein 3D-Objekt aufzufassen, das sich ausser der Interpretation stets auch den elementaren sinnlichen Erfahrungen von Hören und Sehen öffnet.

Gerhard Rühm führt dies – als Dichter, Rezitator, Musiker und Zeichner – seit Jahrzehnten in meisterlicher Manier vor, und er ist heute im deutschen Sprachbereich wohl der einzige Autor, der die Poesie in all ihren Dimensionen gleichermassen gekonnt praktiziert. Seit Jahrzehnten ist er, gleichsam als Avantgardist vom Dienst, solcherart an der Arbeit, derweil die heute mehrheits- und konsensfähigen Lyrik bekanntlich ganz andere Prioritäten hochhält. Gefragt sind umgangssprachlich (oder auch, anders herum, fachsprachlich) imprägnierte, dabei diskursiv angelegte Gedichte, die durchaus ohne klangliche und visuelle Organisation auskommen. Doch so oder anders sind Klanglichkeit und Optik – auch wenn sie nicht bewusst wahrgenommen werden – in der Dichtersprache gewissermassen mitgegeben. Die Dreidimensionalität aller Poesie bleibt also notwendigerweise (oder sollte man sagen: naturgemäss) in jedem Fall erhalten, selbst dort, wo sie nicht angestrebt und auch nicht erwartet wird.