Felix Philipp Ingold: LyrikText

 

FELIX PHILIPP INGOLD

Beschwert

 

Vom Ursprung unterschei-
det sich alles. Auch
der Unterschied. Wie vom
Lied das Leid. Wie
von den Beiden die Zwei.
Im winzigsten Ei
wird der Maiglöckchenduft
zum Ereignis.
(Eigens treffen sich
hier Blitz und
Kern zum Sprung.)
Der einzige Zeuge hebt
die Uhr dicht
vors Gesicht. Da
bleibt sie stehn genau
um Null. Zu früh
und für immer.
(Wie das Gegengewicht
in dem die Zukunft
das Vergangene beschwört.)

 

Ich muss,

um zu schreiben – genauer: um ein Gedicht zu schreiben – nichts Besonderes erlebt, erlitten oder verbrochen haben.
Gegenstand des Gedichts sind nicht aussersprachliche Fakten, ist nicht die sogenannte Wirklichkeit; auch Gefühle, irgendwelche Erregungen, Erinnerungen, Überzeugungen haben keinen Platz, finden keinen Ausdruck, keine Form im Gedicht.
Gefühle, verdichtet zur Gefühlslage, können die Entstehung des Gedichts konditionieren, gehen aber nicht thematisch ins Gedicht ein, bestimmen auch nicht dessen metaphorisches Gefüge.
Um ein Gedicht zu schreiben, brauche ich nichts anderes als ein beliebiges Schreibgerät, einen beliebigen Schriftträger und – ein Wort; ein beliebiges Wort genügt dazu allerdings nicht, es muss ein Reizwort sein, ein Kern- oder Leitwort. Als solches kommt, in der Funktion eines Impulsgebers, jedes Wort, nicht aber irgendein Wort in Frage.
Anlass und Gegenstand des Gedichts ist also nicht die aussersprachliche Wirklichkeit, sondern die Sprache selbst als Wirklichkeitsform.
Mit einem Wort beginnt, naturgemäss, ein jedes Gedicht, beginnt dessen Niederschrift, auch wenn jenes Wort, das jeweils am Anfang da war, keineswegs immer – bei mir meistens nicht – seine Stellung am Anfang des Gedichts behauptet.
Ohnehin müsste ich’s genauer sagen: Nicht bloss mit einem Wort, vielmehr als Wort beginnt das Gedicht; das Gedicht ist nichts anderes als ein sich auslebendes, zu einem Text sich entfaltendes Wort.
Der Prozess dieser Ausfaltung verläuft keineswegs linear, er vollzieht sich in Sprüngen und Brüchen, wird nicht von meinem Aussagewillen als Autor gesteuert, ist nicht durch logische oder syntaktische oder prosodische Regulative bestimmt, sondern beruht erstens und vorzugsweise auf klanglichen, zweitens auf metaphorischen (bildhaften), schliesslich auf intertextuellen (zitathaften) Assoziationen.
„Wenn man wüsste, aus was für Mist Gedichte wachsen“ (eslib znali, iz kakogo sora rastut stichi… ), hat einst Anna Achmatowa halb im Scherz und doch ganz im Ernst festgehalten. Wissen kann „man“ das, als Leser, nicht; „man“ weiss es auch nicht immer genau genug als Autor. Der Mist, der alltägliche Wortmüll ist Nährboden und wird darüber hinaus, ohne dass „man“ es sich versieht, zum Füllstoff, zum Gleitmittel, zur Gärsubstanz des Gedichts.
Das Gedicht möchte ich nun, für die Dauer der nachfolgenden Explikation, als mein Gedicht verstanden wissen, dazu aber gleich auch sagen, dass es „mein“ Gedicht einzig als „das“ Gedicht gibt; dass das Gedicht vorab „es“ (selbst) ist; dass das Gedicht, jedenfalls der Sprachstoff dazu, eher gefunden als erfunden wird; dass „mein“ Gedicht das Gedicht ist, das unter meiner Hand – ich schreibe Gedichte immer von Hand – sich aus einem Wort, einer Wortverbindung zum Text entfaltet, indem es, von mir eher zugelassen als gewollt (nolens volens), am Leitfaden lautlicher und anderer Assoziationen Gestalt gewinnt und dabei, stets zufallsbedingt, immer wieder neues, ihm adäquates, zu ihm passendes Sprachmaterial an sich zieht, um es, in immer wieder neuer Konstellation, in sich fortwirken zu lassen. Ich nenne solche Wörter oder Wortverbindungen Attraktoren, wissend, dass ich damit begrifflich zu kurz fasse; Attraktoren – Wörter mithin, die gleichsam nach ihrem eigenen Echo rufen, die aber dieses Echo nicht bloss „anziehen“, sondern es, als sein Impulsgeber, überhaupt erst auslösen.
Dass das erste, das Impuls gebende Wort, wenn es als Attraktor fungieren soll, ein bestimmtes und vorbestimmendes Wort sein muss, entspricht meiner Schreiberfahrung. Vielleicht kommt ein solches Wort vom Nebentisch im Café Odeon, vielleicht von einem Handyuser, der in der Strassenbahn unnötig laut vor sich hin spricht, vielleicht auch aus der Tageszeitung, aus den Radionachrichten beim Frühstück, aus einem Mahnschreiben der Swisscom, einem Privatbrief, einer Reiselektüre; die Quelle ist ohne Belang. Wichtiger die schlichte Tatsache, dass ich stets mein Moleskine Notizbuch bei mir habe – das mobile Archiv, in dem ich vorgefundenes Sprachmaterial ablagere, sei’s in Form von Eintragungen (Vokabeln, Zitaten, Exzerpten), sei’s in Form von kleinen Dokumenten (Zeitungsausrissen, mit Text bedruckten Zuckertütchen, Kinokarten u.ä.m.), die ich im integrierten Faltfach aufbewahre.
Ein jeweils erstes Wort ist plötzlich da, unerwartet und unmotiviert, und sofort fängt es an zu wirken. Die Wirkung besteht darin, dass das Wort – nunmehr also ein ganz bestimmtes und nur dieses Wort – attraktiv wird und selbsttätig (man realisiert nicht wie und warum) andere Wörter an sich zu ziehen beginnt, wobei die Anziehung zunächst rein lautlicher Natur ist, sich auf klangähnliche Einzelbegriffe bezieht und erst allmählich grössere Verbindungen eingeht, um schliesslich syntaktische Strukturen, Sätze, Verse herauszubilden.
Ich will diesen Prozess mit einem konkreten Beispiel aus meiner jüngsten Schreibarbeit verdeutlichen, ihn gleichzeitig erläutern. Beispielhaft ist weniger das Gedicht in seiner definitiven Fassung als vielmehr die Entstehungsweise, genauer: die Verfertigung des Gedichts. Das Gedicht – mein Gedicht – gewinnt seine Form aus doppeltem Antrieb; einerseits, wie erwähnt, aus sprachlicher Selbsttätigkeit, anderseits aus dem ordnenden, struktur- und sinnbildenden Zugriff des Autors. Die Entstehung des Gedichts – meines Gedichts – ist also ein zufallsbestimmtes, durchweg ziel- und interesseloses Werden im Zusammenwirken mit diskret steuernden und vernetzenden Schreibgesten.
Das erste Wort, das ich am 6. Juni 2003 – ich sass im Wartzimmer meines Hausarztes – beiläufig notierte, war die Verbform „beschwört“. Das Wort war zwischen zwei ebenfalls wartenden Patienten gefallen, die sich im Flüsterton über was auch immer unterhielten. Ich schrieb es unten rechts auf eine neue Seite und setzte gleich, diesmal oben links, das ähnlich klingende Wort „beschwert“ dazu, etwas später folgten, nun bereits dem lautlichen Attraktor gehorchend, „bewehrt“ und „bewährt“ sowie „wert“ und „Wert“.
Ich liess das Notizbuch aufgeschlagen auf dem Nebensitz liegen und griff ziemlich gedankenlos nach einer Gesundheits- oder Werbebroschüre, von der einige Exemplare Zum Mitnehmen auf dem ovalen Klubtisch ausgelegt waren. In der Broschüre fand sich unter der Rubrik „Nachgeforscht“ ein kurzer Beitrag mit dem Titel „Spermien haben einen feinen Riecher“. Da ich bald ins Sprechzimmer gerufen wurde, steckte ich die Drucksache ein und griff erst wieder darauf zurück, als ich auf dem Nachhauseweg in der Strassenbahn sass.
In dem kleinen Forschungsreport aus der Bochumer Universität war die Rede davon, dass Spermien offenbar mit Riechrezeptoren versehen seien, die ihnen die Ortung der Eizelle erleichterten oder überhaupt erst ermöglichten. Der Riechstoff der Eizelle, so hiess es in dem Bericht weiter, sei am ehesten „dem Duft der Maiglöckchen ähnlich“. Was mich, abgesehen vom Inhalt des Berichts, frappierte, war die mehrfache Wiederkehr des Doppellauts „ei“ im Textverlauf. Das „Ei“ war hier nicht bloss zentraler Gegenstand der Mitteilung, sondern auch, als Lautgebilde, der zentrale Attraktor, der – nicht anders als das Ei die Spermien – ihm entsprechende Klangkerne anzog. Zum „-ei-“, hier als Silbe, als Diphtong begriffen, passte das „-ai-“ aus Maiglöckchen, passten aber auch die „ei“-Verbindungen in weib-, zeig-, gleich-, zwei– u.a.
All diese Ableitungen notierte ich mir noch unterwegs in der Strassenbahn, aber erst zwei Tage danach, am 9. Juni, entstand das Gedicht, das jetzt den Titel „Beschwert“ trägt und dessen letztes Wort – „beschwört“ –, das ich als erstes aufgeschrieben hatte, einen fernen echoartigen Reim dazu bildet.
Für die Niederschrift des Gedichts verwendete ich die leere Rückseite einer Xeroxkopie, auf die ich nun einige jener Wörter aus dem Notizbuch übertrug. Oben links waren dies die Wörter „beschwört“, „bewährt“ und „wert“, und über die Seite verteilt gab es – noch ohne jeden Zusammenhang – die Wortgruppen „Ei“, „Mai“, „zwei“, „beide“ und weiter unten, nach rechts gerückt, kamen die homophonen Silben „Ur-“ und „Uhr“ dazu; zwischen „Ur-“ und „Ei“ ergab sich, diesmal nicht auf Grund zufälliger phonetischer Attraktion, sondern von mir gewollt, ein erster Bedeutungsbezug. Die nachfolgende semantische Vernetzung des Wortmaterials erfolgte im Wesentlichen im Klangbereich u – i/ie – ei.
Dieser Klangbereich wird gleich im ersten Vers markiert, und er entspricht ja auch, wie eben angemerkt, der semantischen Nähe von „Ur-“ und „Ei“. Mit einer dreifachen Folge von u-Lauten („Ursprung“, „unter-“) wird direkt hingeführt zu „-ei-“. Da der Zeilenbruch mit der Worttrennungsstelle („unterschei-“) zusammenfällt, ist hier der Doppellaut ei besonders exponiert, er kündigt das Wort „Ei“ an, dessen Bedeutung („Ursprung“) bereits vorgegeben ist, und er ist zugleich der Klangkern, aus dem im Weitern eine Reihe von Assonanzen entfaltet wird („Leid“, „Beiden“, „Zwei“ usw.), wobei auch die Umkehrung der Letternfolge ei zu ie, phonetisch also ei zu i eine Rolle spielt („unterschei-“/„Unterschied“, „Leid“/„Lied“). Mit „Ur-“ und „Ei-“ ist assoziativ – durch Vermittlung von „Ursprung“- auch das Wort „Eisprung“ verbunden, das im Gedicht explizit nicht vorkommt, auf das aber mittelbar verwiesen wird auf der Lautlinie Ei – Ereignis – Eigens – (Sprung), wobei im letzteren Wort „Sprung“ die lautliche Umkehrung („-ru-“) wiederum an „Ur(sprung)“ erinnert. Der „Sprung“ in Ur- und Eisprung wird auch typographisch realisiert durch den Zeilensprung gleich im ersten Vers („unterschei-“).
Als semantisches „Gegengewicht“ – man könnte auch sagen: als logischer Gegenzug – zum „Ursprung“ und mithin zum „Ei“ wird am Schluss des Gedichts die „Zukunft“ eingeführt, die ihrerseits, als Wort, auf lautlicher Ebene durch das zweifache silbentragende u den Ursprung (hier „das Vergangene“) und den im Text nicht vorkommenden „Eisprung“ evoziert. Von daher versteht sich nun auch, dass das Gedicht mit dieser Beschwörung und also mit dem einst erstnotierten Wort endet.
Nicht nur manches aus dem eher trivialen „Spermien“-Bericht ist, direkt oder indirekt, in das Gedicht eingegangen, auch ein bekannter Zweizeiler von René Char hat die Textentstehung beeinflusst. Während des Schreibens sind mir diese Zeilen in der faksimilierten Handschrift des Dichters vor Augen gekommen; sie lauten:

Si nous habitons un éclair,
il est le cœur de l’éternel.

Ich habe mir dazu, zwischendurch, ein paar Übersetzungsmöglichkeiten durch den Kopf gehen lassen, mich vorab gefragt, was es mit dem „Herzen“ (cœur) des Ewigen auf sich hat. Ein beiläufiger Übersetzungsversuch hat folgende Lösung erbracht:

Ist ein Blitz unsre Bleibe,
wird er zum Ewigkeitskern.

Zweimal kommt auch hier das „-ei-“ mit, in „Bleibe“, in „Ewigkeitskern“. – Dem gegenüber würde die wörtliche Übersetzung etwa so lauten:

Wenn wir einen Blitz bewohnen,
ist er das Herz des Ewigen.

Im Französischen wird „cœur“ nun aber keineswegs nur in der Bedeutung von „Herz“ verwendet, das Wort steht auch allgemeiner (und zumeist metaphorisch) für die Mitte, für ein Innerstes, Wesentliches sowie für Mut, für Tapferkeit (etwa in avoir du cœur).
Mit dem entstehenden Gedicht hat sich das Wort „cœur“ auf Grund zweier lautlicher Charakteristika vernetzt, einerseits durch die finale Letternkombination „-ur“ (zu „Ursprung“, „Uhr“), anderseits durch die relative Klangähnlichkeit von „cœur“ und „Kern“, durch die auch eine semantische Nähe suggeriert wird. Klanglich eingespurt durch die Wortreihe „Ei“ – „Ereignis“ – „Eigens“ bildete sich somit eine poetische Parenthese zwischen „Ei“ und „Sprung“, zu der ein zufällig begegnendes fremdsprachiges Wort den Anstoss gegeben hat:

Im winzigsten Ei
wird der Maiglöckchenduft
zum Ereignis. (Eigens treffen sich
hier Blitz und
Kern zum Sprung.)

Im Weitern tritt dann „der einzige Zeuge“ hinzu, auch er lautlich wie semantisch aufs Ei bezogen, da immer nur einer aufs Mal via ein Ei zum Erzeuger werden kann. Die Zeugung kann als Urszene im Ei begriffen werden, und „Ur-“ als das Uranfängliche hat mit Zeit zu tun, verbindet sich leicht mit dem homophonen Wort „Uhr“. Da die Uhr zumeist mit rundem Zifferblatt imaginiert wird, liegt auch der Vergleich mit dem runden „Gesicht“ und der runden „Null“ nahe:

Der einzige Zeuge hebt
die Uhr dicht
vors Gesicht. Da
bleibt sie stehn genau
um Null. Zu früh
und für immer.

Wie dieses Gedicht; es fand, ohne dass das gesammelte Wortmaterial vollständig genutzt worden wäre, am 9. Juni 2003 zu seiner definitiven Form:

Beschwert vom Ursprung, in dem die Zukunft das Vergangene beschwört…


Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005