Felix Philipp Ingold: LyrikText

Gestriger Avantgardismus heute

 

Die heute “historisch” oder “klassisch” genannte künstlerische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts hat in jüngerer Zeit viel von ihrer einstigen Faszination verloren. Das Pathos der «Formzertrümmerung», des Traditionsbruchs, der Attacke auf Bildungs- und Verwahrungsinstitutionen (Museen, Bibliotheken, Akademien usf.) sowie des unmittelbaren politischen Engagements ist verflogen, seitdem wieder vorrangig – wie zu Zeiten «realistischer» Welterfassung – private und soziale Befindlichkeiten das künstlerische, speziell das literarische Interesse beanspruchen: Familien-, Beziehungs-, Krankheits-, Sucht- und Fluchtgeschichten lassen Formfragen und Sprachskepsis ebenso in den Hintergrund treten wie das Spiel und den Zufall als Faktoren künstlerischer Produktion.

   Solche Faktoren waren für die einstige gesamteuropäische Avantgarde von zentraler Bedeutung – Zufall und Spiel bestimmten weitgehend die Materialität, das Verfahren, das Konstrukt des daraus erwachsenden Werks. Das Werk als Bedeutungsträger war obsolet geworden, gefragt war vielmehr das Werk als solches, das Werk als visuelle, akustische, haptische oder sprachliche Gegebenheit. In der Literatur löste sich mit dem Schwund der Textbedeutung (Aussage) auch der Satz (Syntax) auf, derweil das Wort, der Buchstabe, das typographische Sonderzeichen usf. in den Vordergrund rückten.

Avantgarde
Text oder Bild? Lesen oder betrachten? – typographische Komposition von Ilja Sdanewitsch (1919)

 

Der radikale Bedeutungsentzug – man denke an die Nonsense-, die Lautpoesie der Futuristen und Dadaisten – sollte nicht allein die Materialität der Sprache und die Struktur der Texte neu erfahrbar machen, er war gleichermassen als Provokation des sogenannten gesunden Menschenverstands gedacht und darauf angelegt, althergebrachte Lese- und Schreibgewohnheiten zu konterkarieren.

   Von daher erklärt sich die Vielzahl von Verneinungen, Imperativen, Interjektionen und typographischen Hervorhebungen in avantgardistischen (poetischen wie theoretischen) Texten von damals, vorab der vielstimmige Ruf nach Traditionsbruch und Zerstörung: «Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack!» – «Tod der Kunst!» – «Nieder mit dem Akademismus!» – «Schluss mit dem Realismus!» – «Über Bord die Klassiker!» – «Tod dem Mondschein!» – «Das letzte Requiem auf die Romantik!» – «Gegen alle Gestrigen!» – «Für eine chaotische Neuordnung!» Usf.

   Das Chaos als neue Ordnung? Die avantgardistische Diktion führt mehrheitlich in die Sackgasse des Paradoxons, der Selbstwiderlegung oder schlicht der Unverständlichkeit. Vor hundert Jahren wurde solcherart – grundsätzlich ex negativo – mit spielerischem Ernst und zynischem Witz viel Neues durchgesetzt. Verfremdungen unterschiedlichster Art (Bruch und Neumontage; Präsenz statt Repräsentation; das Wort als autonomes Ding statt als Bedeutungsträger usf.) initiierten ein neues dynamisches Sehen, Lesen, Verstehen, erzeugten aber durch permanent enttäuschte Erwartungen naturgemäss auch weitläufige Irritationen.

Populär waren die «klassischen» Avantgardisten nie, sie waren für zwei Jahrzehnte en vogue, eher modisch denn nachhaltig. Doch ein Blick zurück auf ihre provokanten formalen und theoretischen Errungenschaften könnte (und sollte eigentlich) die Bequemlichkeiten des heute üblichen Lese- und Schreibverhaltens wenigstens momentweise in Frage stellen.