Felix Philipp Ingold: LyrikText

Vom Abtragen der Monumente oder das Wesen der Chronologie

Versuch über Ingold

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Teil 2

I

Die Anführer der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die aufgrund einer Kalenderanpassung im Nachhinein eigentlich in einem November stattfand, wurden uns unter ihren Decknamen vorgestellt, also nicht als Uljanow oder Tschugaschwilli, sondern als Lenin oder Stalin. Ihre Klarnamen hatten sie in der Illegalität abgelegt; und dass sie bei ihren Decknamen blieben, auch nachdem sie die Staatsmacht übernommen hatten, hatte Methode. Dieses Motiv zieht sich letztlich durch den Roman „Alias oder das wahre Leben“, auch wenn der Held alles andere als ein Führer ist. Er ist ein sowjetischer Schriftsteller, der versucht, den gesellschaftlichen Maßgaben, die an ihn durch Partei und Schriftstellerverband herangetragen werden, gerecht zu werden. Über weite Strecken versteht er sich als sozialistischer Realist und baut in diesem Sinne die Geschichten der Werktätigen in Heldengeschichten um. Unter anderem schreibt er unter dem Pseudonym Choloschow die Novelle „Ein Menschenlos“.

Ich bin in einem sozialistischen Land aufgewachsen und in eine sozialistische Schule gegangen. Und zum sozialistischen Kanon in der Literatur gehörte neben Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ Scholochows „Ein Menschenschicksal“. Für uns Schüler gab es eine zentrale Stelle in diesem Buch. Zwei Sowjetsoldaten stehen am Waldrand und nur einer von ihnen hat nur eine Zigarette. Er bricht sie in der Mitte durch und gibt eine Hälfte dem Kampfgenossen mit den Worten: „Alleine Rauchen ist wie alleine Sterben.“ Das wurde zum geflügelten Satz in der Klasse, wenn einige von uns in der großen Pause hinter der Turnhalle verschwanden.

II

Die Geschichte der Sowjetunion begann mit einem Putsch. Der Zar hatte im Februar 1917 abgedankt, und eine provisorische Regierung unter der Führung des Sozialdemokraten Kerenski hatte die Führung übernommen. Dem standen die sogenannten Maximalisten gegenüber, die keine bürgerliche Demokratie akzeptierten und gleich ins Arbeiterparadies wollten. Auf einem Kongress der Sozialdemokratischen Partei Russlands konstituierten sich dies Maximalisten auf Grund eines Abstimmungsergebnisses als Bolschewiki (Mehrheitliche) und im Oktober (oder November) 1917 führten sie einen Staatsstreich durch. Nicht ganz geplant, Lenin war noch im finnischen Exil, wurde aber bald zurückgeholt.

Aus Russland wurde die Sowjetunion, ein sich ständig erweiterndes Kolonialreich, das an seinem Höhepunkt und Ende ca. ein Fünftel der Landfläche der Welt bedeckte und in dessen westlichstem Zipfel, einer autonomen Republik, die sich selbst deutsch und demokratisch nannte (ebenfalls ein Deckname?), wuchs auch ich auf.

III

Der Roman „Alias oder das wahre Leben“ setzt ungefähr in der Mitte der Zeit ein, die dem roten Weltreich beschieden war und er beginnt mit einem Mord. Soldaten auf einem Vorposten nehmen einen deutschen Aufklärer gefangen, ersuchen ihn zu verhören, bewundern seine gute Ausrüstung, haben aber keinen Kontakt zur nächsten Truppe, müssten also ihre ohnehin knappen Vorräte mit ihm teilen. Also bringen sie ihn um. Berger, der hier schon Beregow heißt, erhält den Auftrag den Deutschen zu erschießen.

Schon am Beginn also, und unter dem Druck der Umstände, wie man immer rechtfertigen wird, erlischt der moralische Anspruch der späteren Befreier. (An dieser Stelle sei kurz auf Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“ verwiesen. Im Eingangstext (Wald bei Moskau) der auf dem gleichlautenden Roman des wenig regimekritischen, sowjetischen Autors Alexander Bek zurückgeht, wird dargestellt, wie ein russischer Offizier junge Deserteure im Traum nicht hinrichten lässt. Als er aus dem Traum erwacht, wird die Hinrichtung vollzogen.)

„Der grausamste Monat ist der April, er ist aber auch der lächerlichste, der lieblichste. Nicht anders – also wie üblich – wars im Kriegsjahr 1942.“

Im Folgenden begleiten wir Berger alias Beregow durch die restlichen Jahre des Krieges, durch den Stalinismus, ins Lager durchs Tauwetter, nach Israel, bevor sein Leben nach Aufenthalt am Bodensee auf einem Ausflug in die Gedenkstätte des KZ Mauthausen endet.

Berger war als Soldat Beregow an dessen Befreiung beteiligt, bzw. fast, die Amerikaner hatten das Lager befreit, und die Russen stießen später dazu. Berger arbeitet als Übersetzter und lernt dort seine spätere Frau kennen, die als Häftling im Fotostudio des Lagers tätig war und in einer Widerstandsgruppe arbeitete, die es sich zum Auftrag gemacht hatte, die Verbrechen der Nazis zu dokumentieren.

Es ist ein Roman voller Scharaden. Bergers Frau verliebt sich in einen ehemaligen Häftling aus dem Gulag, der auch ein ehemaliger Frontkamerad Bergers ist. Sie verlässt Berger, der später aufgrund einer Denunziation selbst ins Lager einfährt. So biegt sich die Geschichte im Grunde immer wieder auf Anfang, und wie die reale Geschichte der Sowjetunion mit einem Putsch beginnt, und Bergers Geschichte mit einem Mord, erlauben beide im Grunde keinen Ausgang. Sie müssen, auf sich selbst zurückgeworfen, enden und Russland findet in einen vorrevolutionären Zustand zurück. Das ist natürlich keine Erlösung, aber es ist eine Befreiung vom Erlösungsversprechen.

Erzählt wird aus Hinterlassenschaften. Dieser Roman ist Archäologie und Rekonstruktion. Eine Welt von ihrem Ende her betrachtet. Ich weiß nicht, ob das Buch für mich zum richtigen Moment kam. Ich habe lange Zeit gebraucht, um meine eigenen Gedanken aus der Umklammerung der Ideologie zu lösen. Wahrscheinlich hätte ich es vor 20 Jahren gar nicht gemocht und kaum verstanden. Man muss frei sein, denke ich, um diese Kunst zu genießen. Aber es ist ein großartiges Buch, das letztlich die theatralische Dramatik des 20. Jahrhunderts, wenn nicht auf den Punkt, so doch in eine Kugel bringt. Und da haben wir über die Sprache, die den Roman trägt, noch gar nicht gesprochen.

Literatur

Felix Philipp Ingold: Alias oder das wahre Leben. Matthes & Seitz Berlin 2011