Felix Philipp Ingold: LyrikText

Das Leben als Werk

Der Schriftsteller und Übersetzer Felix Philipp Ingold wird siebzig Jahre alt

Ulrich M. Schmid in der Neuen Zürcher Zeitung, #171, 25.07.2012

Felix Philipp Ingold verfügt über zwei Identitäten: Der eine wohnt in Zürich, der andere in Romainmôtier; der eine tritt meist elegant schwarz gekleidet auf, der andere trägt ein weißes Hemd, ein Gilet und ein Béret; der eine ist ein bekannter Slawist, Literaturkritiker und Übersetzer, der andere ein exquisiter Lyriker und raffinierter Romanautor. Zwar weiss man nie genau, mit welchem der beiden Ingold man es zu tun hat, wenn man ihn trifft. Mit Sicherheit aber findet man sich sofort in einem tiefschürfenden Gespräch mit einem scharfsinnigen und absolut stilsicheren Humanisten wieder, der über eine enzyklopädische Bildung verfügt. Sein Schriftenverzeichnis hat mittlerweise selbst den Umfang einer Monografie angenommen. Als Leitmotiv seiner wissenschaftlichen wie auch seiner künstlerischen Arbeit lässt sich das Interesse für eine ästhetisch und intellektuell anspruchsvolle Lebensführung erkennen.

Immer wieder taucht der Kernbegriff «Leben» im Titel seiner Publikationen auf - mit den Variationen «ewiges Leben», «das wahre Leben» oder auch nur einfach «das Leben», das einer von Ingolds Protagonisten als sein Chef d'Œuvre präsentiert. Ingold hat seine eigene literarische Existenz immer in anderen, fiktiven und realen Personen gespiegelt, zunächst im russischen Frühsymbolisten Innokenti Annenski, über den er eine subtile Dissertation verfasste. Dann traten Wortkünstler wie Edmond Jabès, Jan Skácel und Gennadi Ajgi in sein Blickfeld.

Alle drei Autoren zeichnen sich durch einen grossen Respekt vor der Autonomie der Sprache aus, die den Autor ganz zurücktreten und im Bedeutungsgeflecht seines Textes verschwinden lässt. Ingold hat auch in anspruchsvollen methodischen Arbeiten immer wieder über die prekäre Existenz des Aussagesubjekts im Text nachgedacht. Seine kürzeste Antwort auf die Frage «Was ist ein Autor» ist in seiner E-Mail-Adresse versteckt: «xpd» - das sind die letzen Buchstaben seines eigenen dreiteiligen Namens.

Für die russische Kultur - Ingolds Fachbereich an der Universität St. Gallen - prägte er in seinen jüngsten Sachbuchpublikationen die Metaphern des Wegs und der Aneignung des Fremden; einen «grossen Bruch» identifizierte er bereits im Jahr 1913 (also vier Jahre vor der fatalen Machtübernahme der Bolschewiki). Was Ingold über Russland sagt, gilt auch für ihn selbst: Sein Lebensweg führte ihn in die französische, tschechische und russische Literatur und Philosophie. Er formte seine ästhetischen Präferenzen an fremden Vorbildern, denen er selbst eine deutsche Stimme gab.

Ein «grosser Bruch» erschütterte Ingolds Leben vor zehn Jahren und entzog ihm die Gewissheit, all seine Projekte zu Ende führen zu können. Gerade die schwierige Erfahrung der Begrenztheit der eigenen Energie und Lebenszeit erhöht jedoch die Kostbarkeit dessen, was er seither geschaffen und geschafft hat: Sein Lesepublikum überraschte Ingold 2011 mit einem ergreifenden dokumentarischen Roman und 2012 mit einer bilderstürmerischen Anthologie der russischen Lyrik, in der gerade nicht das Pathos, sondern das Potpourri den Ton angibt. Heute, MittwOch feiert Felix Philipp Ingold seinen siebzigsten Geburtstag - sein Leben und sein Werk sind Grund für Dankbarkeit, auf seine zukünftigen Texte sind wir gespannt.