Felix Philipp Ingold: LyrikText

Einführung / Lesung Felix Philipp Ingold / Alte Schmiede

Wiener Kunstverein, 26. April 2018, Von Andreas Puff-Trojan

Wie anfangen? Wenn „im Anfang“ das „Wort“ ein „Ort“ war, ein Ort, also vielleicht auch ein „Zeichen, das von Un-Ort zu Un-Ort gegeben wird“, wie Felix Philipp Ingold Emmanuel Lévinas zitiert, in eben seinem Nachwort zu Lévinas‘ Buch „Eigennamen“. Wie anfangen, wenn im Gedichtband Niemals keine Nachtmusik (= stets und immer eine (kleine) Nachtmusik?!) die Zeilen stehen: „Das Ende nie nicht zuerst.“?! Sollte ich darauf antworten: >Niemals will ich jetzt nichts zu Felix Philipp Ingold sagen.<? 

Ich zitiere aus dem Band Wortnahme. Jüngste und frühere Gedichte, erschienen 2005 bei Urs Engeler Editor. Der Band enthält an die 500 lyrische Texte (auch poèmes en prose!):

S. 21: „Nie ist etwas / nicht Irrtum“ – S. 83: „Den Tod zu finden suchen / hat immer nie Zeit.“ – S. 169: „Sehnsucht ist nie / kein Versuch“

Ich zitiere aus dem Band Niemals keine Nachtmusik, erschienen 2017 im Ritter Verlag:

S. 21: „Kein / Abschied ist kein kleiner Tod.“ – S. 22: „Nie ist Kain nicht der Bruder.“ – S.51: „Nie kein Glaube wo das Schweigen / bricht“ – S. 54: „ein Rätsel, das nie nicht mit seiner Auflösung zusammenfällt.“ – S. 91: „Niemals hat die Schönheit keine Wahl.“ – Und für mich persönlich das Schönste / S. 85: „Ewigkeit und Augenblick sind nie nicht ineinander verschlauft.“

Das ist ein Ingoldsches Stilmittel, das innerhalb klassischer Stilmittel (wie Lautmalerei, Metapher und Metonymie, Alliteration, Enjambement – was es in Ingolds Dichtung natürlich auch gibt) nie nicht ein Stilmittel ist. Man kann sagen: Es ist – oder ahmt es zumindest nach – eine doppelte Verneinung. Vorsicht ist geboten. Denn die Ingoldschen doppelten Verneinungen sind bloß entfernte Verwandte der rhetorischen Stilfigur der Litotes: Er hat nicht ganz unrecht. / Das ist nicht übel. / Das Ganze ist nicht ohne Ironie gesagt. Hier kann man eine gewisse rhetorische Zurückhaltung des Sprechers / Schreibers erkennen. Ingold hält sich aber gar nicht zurück! Seine doppelten Verneinungen sind dem baierischen Dialektraum ähnlich: Des is koa sünd net. / Geh schleich di, des is do ka ferrari nicht. In der klassischen Logik bedeutet die doppelte Verneinung, dass die Verneinung eines verneinten Aussagesatzes gleichbedeutend ist mit der Bejahung des (einfachen) Aussagesatzes – duplex negatio affirmat. Formallogisch (und auch nach der axiomatischen Mengenlehre) lautet die Regel der Doppelten-Negation: Wenn aus einer Menge von Annahmen X der Satz A gefolgert werden kann, dann kann aus derselben Menge X auch die doppelte Negation von A gefolgert werden, also ¬¬A. ODER: Die Regel der Doppelten Negation besagt: Wenn man aus einer Menge von Annahmen X die doppelte Negation von A , also ¬¬A folgern kann, dann kann man aus dieser Menge X ebenfalls auf A schließen. Nun ist es aber so, dass nicht alle Logiker (und Mengentheoretiker) dies ungefragt gelten lassen. Und auch Mario Draghi, der Billiggeldleader in der Europäischen Union würde kaum sagen: Kein kein Euro ist ein Euro. Schließen wir uns einem anderen Gewährsmann an – Ludwig Wittgenstein. In seinem Tractatus logico-philosphicus schreibt er: „Wenn man z. B. eine Bejahung durch doppelte Verneinung erzeugen kann, ist dann die Verneinung, in irgendeinem Sinn, in der Bejahung enthalten? Verneint > - - p< - p, oder bejaht es p; oder beides? (…) Und gäbe es einen Gegenstand, der > - < hieße, so müsste > - - p< etwas anderes sagen als > p <. Denn der eine Satz würde dann eben von – handeln, der andere nicht.“ (Tr. 5.44) Was soll’s sagt Wittgenstein und schreibt: „Alles Sätze der Logik sagen dasselbe. Nämlich Nichts“ – Achtung: „Nichts“ Groß geschrieben!!

Felix Philipp Ingold schreibt: „Ewigkeit und Augenblick sind nie nicht ineinander verschlauft.“ – Schlaufe, also. Vielleicht sind Ingolds doppelte Verneinungen, seine der Logik nachgeformten doppelten Negationen literarische Endlosschleifen. Nicht wirklich endlose Endlosschleifen (Was ist endlos? Wie endlos ist die abzählbar unendliche Menge der natürlichen Zahlen n(o) > / = 1?), sondern: „immer nie“ eine Endlosschleife. Was heißt das, könnte es heißen? Wir sagen ein literarischer Text, welcher auch immer, hat Anfang und Ende. Ist das so? Ist das immer so klar? Oder eher: „immer nie“ so klar? Es gibt Romane, die es auf literarische Endlosschleifen abgesehen haben, etwa Georges Perecs La vie mode d’emploi oder Jan Graf Potockis Le manuscrit trouvé à Saragosse. Aber: Wenn am Ende von Thomas Manns Zauberberg Hans Castorp mit Schuberts Lindenbaum auf den Lippen in den Ersten Weltkrieg zieht und ihn der allwissende Erzähler aus den Augen verliert, beginnt dann nicht eine viel größere Geschichte, die Thomas Mann „immer nie“ geschrieben hat? Und wie ist es in der Lyrik? Die ersten Zeilen in Felix Philipp Ingolds Band Wortnahme lauten: „Im Anfang war / das Wort ein Ort. Noch / fern vom Namen / und noch ungeschieden vom Ruch – Geist / wie Bewegung! – der Natur.“ Dann meint Ingolds dichterisches Wort den Ort vielleicht als Un-Ort, als Nicht-Ort, als Ou-Topos. Als einen Ort, an dem gilt: „Ewigkeit und Augenblick sind nie nicht ineinander verschlauft.“ Gibt es nicht Volkslieder, Gedichte, die Anfang und Ende ineinander verschlaufen: „Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei“ etc. Und wie verhält es sich mit dem lateinischen Palindrom „In girum imus nocte et consumimur igni“ / „Wir gehen des Nachts im Kreis und werden vom Feuer verzehrt“? – „Asche, „Spur“, „Name“ – alles ortlose Worte, die sich durch Ingolds Dichtung ziehen und durch die eine lyrische Verschlaufung stattfindet.

In der neuesten Ausgabe der Literaturzeitschrift Volltext (Nr.1 / 2018) geht Felix Philipp Ingold einem eher wenig beachtenden Phänomen in Jacques Derridas Philosophie nach. „Nicht enden wollender Beginn. Jacques Derridas Rhetorik des Aufschubs“ lautet der Titel. Natürlich ist eines klar: Alles hat einen Anfang, und dann ein Ende – nur die Wurst hat zwei. Der Anfang setzt im setzen des Anfangs auch das Zeichen für das Ende. Wie das Leben beginnt irgendwo das Schreiben und der Schreibende hat im Schreiben das Ende vor Augen – blickt er auf die beschriftete Seite sieht er spiegelbildlich in seinen Tod. Derridas „Ent-Wurf“, sein „Pro-Jekt“, zumindest in seinen spektakulären, nicht enden wollenden Reden, wäre, sich sozusagen im Wurf zu halten, stets Werfender zu sein und nie das Geworfene – sozusagen Heideggers Geworfen-Sein ins Dasein und dem „Sein zum Tode“ zu entkommen. Da findet, könnte man in Anlehnung an Ingold sagen, eine Verschlaufung des Denkens, Schreibens und Sprechens bei Derrida statt, etwas, das mit etwas anfängt, und zugleich stets, etwa mit Hypertexten wie im Buch Glas (= Totenglocke!), das Ende des Angefangen ins Endlos hinausschiebt. Man könnte also mit Ingold sagen, dass für Derridas Sprechen und Denken gilt: „Ewigkeit und Augenblick sind nie nicht ineinander verschlauft.“ Diese Verschlaufung wäre dann durch die Denkbewegung von „construction – deconstruction“, von der Differenz der „differance“ her zu denken. Mir fällt dazu besonders ein Text Derridas ein: (eigentlich ein Vortrag, also eine nicht enden wollende Rede): Schibboleth von 1986. In dieser nicht enden wollenden Rede Derridas geht es um die Zeit, die es nicht mehr gibt, eine durch absoluten Schrecken ausgelöschte Zeit. Es geht um die Datierung von Gedichten, die Paul Celan stets vorgenommen hat, um sie in den veröffentlichten Büchern wieder auszulöschen. Felix Philipp Ingold beendet seinen Text zu Derridas Rhetorik des Aufschubs mit einem Zitat des Philosophen: „Ich komme damit auf meine Eingangsfrage zurück.“ Und dann bilanziert Ingold: „Das entspricht seiner nomadischen Denkbewegung, deren Ziel darin besteht, kein Ziel zu haben, aber stetig unterwegs zu sein und immer wieder bei ihrem Ausganspunkt anzukommen.“

Ein Nomade ist ein seltsamer Zielloser. Er zieht von Ort zu Ort, jeder Ort ist aber auch sein Ou-Topos, sein Nicht-Ort. Und weil er von Ort zu Ort zieht, ist sein Ziel stets die doppelte Verneinung eines definitiven Ziels. – „Im Anfang war / das Wort ein Ort“, schreibt Ingold. Wohlgemerkt: ein Ort, nicht der Ort. Wer sein Ziel an die Verschlaufung koppelt, der setzt immer wieder neu an, ein Ziel anzuvisieren, er negiert Aufbruch und Ziel auf doppelte Weise, er bejaht beides, indem er beides verneint. Doch diese in der doppelten Negation aufgehobene („aufheben“ im Hegelschen Sinn!) Zielhaftigkeit ist keineswegs etwas, das Spuren vernichtet. In den Bänden Wortnahme und Niemals keine Nachtmusik kommt rund 50 mal das Wort „Asche“ vor. Dazu kommen Begriffe, des Brennens, der „Spur“ und des „Namens“.

Im Band Wortnahme findet sich ein Gedicht, das den Titel „Asche“ trägt. Asche, das „ist Mehrheit und leichter“, heißt es. „Asche“, das ist ein Substantiv einer unbestimmten Mengenangabe. Immer also „Mehrheit“ und leichter als das, was es vor dem Vorgang des Brennens gewesen ist. Was den „springenden Punkt“ von Asche betrifft, ist es einerseits natürlich das „Naturgemäße“, doch hat es ebenso mit „Scham“, „Schmerz“, „Armut“, mit schrecklicher „Leidenschaft“ zu tun. „Asche“, das hat für uns (fast) immer mit Zerstörung zu tun, mit Verlust, mit Wandel von etwas, das sichtbar, greifbar, lesbar war, und sich nun zu Aschenpartikeln verflüchtigt. – „Denn dort / ragt unfruchtbar der freie Radikal“, heißt am Schluss des Gedichts „Asche“. Die Theorie der freien Radikale ist ein Erklärungsmodell für das Altern von Organismen – ashes to ashes lautet das letzte Gebot. Aber ist, was zu Asche geworden ist, reine „Armut“, also reiner Verlust? Ist Asche vielmehr „nie nicht“ auch „Name“ und „Spur“? Jacques Derrida hat das Thema der Spur in seiner bekannten Unterscheidung von „différence“ und „différance“ beschrieben. In seiner kleinen Schrift „feu la cendre“ („Feuer und Asche“) von 1987 beschreibt er die Differenz der Spur / Spuren mit einem Satzbeispiel: „Il y a la cendre“ (=Es gibt Asche) und „Il y a là cendre“ (mit accent grave = Es gibt hier/ da Asche). Dass es eine unbestimmte Menge von Asche gibt, ist eine banale Aussage. Aber dass es DA, dass es HIER Asche gibt, ist ein klares Zeichen einer Spur, die man Aufnehmen kann. – „Aschenspur würde Derrida mit Paul Celan vielleicht sagen. „Asche“ ist bei aller Trauer und Wut über die Vernichtung als ein HIER-DER-ASCHE eben auch Spur. Asche als Ou-Topos, als Nicht-Ort, als U-Topie, die sich gerade noch (Il y a LÀ cendre!) gegen die drohende Dystopie hält (das „nie nicht“ bei Ingold!), hat etwas mit der „Verschlaufung“ des Denkens zu tun.

Neben der doppelten Verneinung (einschließlich der Bedenken Wittgensteins zu diesem Thema) gibt es für die „Verschlaufung“ in den lyrischen Arbeiten bei Felix Philipp Ingold eine ganze Reihe von Stilmittel: Im poetischen Überfluss finden sich in den Gedichten Enjambements, also Zeilen- oder Verssprung. Man muss das nicht weiter erklären: Enjambements dienen schlicht der Verschlaufung des lyrischen Schreibens, Denkens und Sagens. Alliterationen und Gleichklang von Wörtern gibt es da, wobei naturgemäß dadurch die Bedeutungsebene so tut, als ob sie familiäre Lautstimmung mittrüge: Im Gedicht „Wer’s weiß“ etwa ist zu lesen: „Und / schultern aber neue Beben / Berge, die beliebig / sind“. Oder: „(statt / sich durchfragen zum Abgrund / der sste). Und nichts / wird weiss wie nie / der ste.“ Es gibt Bildsprünge, man sollte hier von kreativer Katachrese sprechen, etwa im Gedicht „Menschlich“: „Gelingen Wirren oder – / schlimmer – / Bilder // die vor Ohren führen.“ Dann gibt es lyrische Gleichklangteppiche, die tatsächlich den Leser dazu verleiten, eine durch den Klang erzeugte Bedeutungsverschleifung anzunehmen, etwa im Gedicht „Menschheit“ folgende Worte: „Ich“ – „Licht“ – „leicht“ – „Gleichgewicht“ – „Gewicht“. Solche Gleichklangmuster können philosophisch-philologische Verwirrung stiften, etwa der Anfang des Gedichts „Wassern“. Die Frage lautet: „Ist Meer die Mehrzahl / von Wasser.“ Oft hält Ingold in seinen Gedichten die Strophenform ein, bricht sie aber auch auf. Im Zyklus „Reimt’s“ reimt sich keineswegs alles, dafür reimt’s sich’s im Zyklus „Glossar“ gewaltig, unter dem Stichwort „Terrorist“ ist zu lesen: „Der ist rot, nicht wahr, ein Schlimmer / - der gehört ins Koma; und für immer!“ Dann gibt es in Ingolds Gedichten etwas, das im klassischen Sinn gar kein Stilmittel ist: Man könnte es Silbenwiederholung nennen, oder schlicht: lyrisches Stottern. Im Gedicht“ „Vorspruch“ ist etwa zu lesen: „Für Iii! das s-si - sirenengleich die Morgenröte / auf die Spitze treibt“. Aber das ist ja klar: Wer in Verschlaufungen lyrisch denkt, der muss auch nie nicht stottern. Eines sei noch erwähnt: Felix Philipp Ingold hat auch nicht wenige poèmes en prose, also in etwa „Prosagedichte“ verfasst. Hier wird, rhythmisch gesehen, ein lyrischer An-Schlag auf die Prosa verübt. Charles Baudelaire sprach beim poème en prose auch von Musikalität, es gehe um die „mouvements lyriques de l’âme“, um die „soubresauts de la conscience“, um die Sprünge und Stoßzuckungen des Bewusstseins. Sicher, wer verschlauft, der springt auch.

A propos, zur stets anwesenden Verschlaufung: Der Band „Wortnahme“ beginnt mit den Worten: „Im Anfang war / das Wort ein Ort.“ Der Band „Niemals keine Nachtmusik“ setzt mit den Worten ein: „Ein Ah! Ist der Anfang von allem“. Und eben dieser Band endet mit den Worten: „Alles aus. Alles nichts.“ – Was für eine Kunstverschlaufung!