Felix Philipp Ingold: LyrikText

Dass für Rainer Maria Rilke der entscheidende „Durchbruch seines schöpferischen Tuns“ mit dem „Erlebnis Russland“ aufs Engste verbunden war und Zeit seines Lebens wirksam blieb, ist durch zahlreiche Aufzeichnungen und Erinnerungen aus seinem Freundeskreis bestätigt. Mit welch staunenswerter Einfühlungsgabe und Nachhaltigkeit sich Rilke der „russischen Dinge“ bemächtigt, sie für sein Schaffen – durch Lektüren, Übersetzungen, Korrespondenzen – fruchtbar gemacht hat, ist inzwischen auch in der Forschungsliteratur aufs Eindrücklichste dokumentiert. Eine in russischer Sprache vorliegende Textsammlung vereinigt unter dem Titel Ril’ke i Rossija auf vielen hundert Druckseiten nebst Tagebüchern und Briefen auch die Aufsätze des Dichters zur russischen Kunst sowie seine in russischer Sprache verfassten Gedichte, dazu eine Reihe von Erinnerungstexten, die Rilke als einen ebenso naiven wie enthusiastischen Wahrheitssucher in seiner russischen Wahlheimat vergegenwärtigen.

So war etwa der Maler Leonid Pasternak gleich bei der ersten Begegnung völlig „bezaubert“ von Rilkes „edler Haltung“ und seiner „unbändigen, strahlenden Freude, ja Begeisterung für alles schon in Russland Gesehene, für dieses, wie er es ausdrückte, „ihm heilige’ Land ...“
Noch bevor Russland für Rilke zum Erlebnis wurde, war es – nicht zuletzt durch persönliche Begegnungen und Gespräche mit russischen Besuchern im Umkreis seiner damaligen Freundin Lou Andreas-Salomé – als Bild (das Heilige Russland) vorgezeichnet und als Idee (die geistige Heimat) vorbestimmt. Die beiden Russlandreisen im Aufgang zum 20. Jahrhundert – zusammen mit Lou besuchte Rilke Sankt-Petersburg, Moskau, die Klosterstadt Zagorsk und das Landgut von Lev Tolstoj in Jasnaja Poljana – konnten in der Folge, trotz starken Eindrücken und lehrreichen Begegnungen, keine wesentlich neuen Erkenntnisse mehr vermitteln. Kritische Wahrnehmung kam nicht zum Zug gegenüber dem quasireligiösen Faszinosum dessen, was der Dichter als seine „eigentliche Heimat“ sehen wollte. Der persönliche Augenschein sollte lediglich der Bestätigung positiver Vorurteile und der Erschliessung "entsprechender Sinnbilder" dienen.

Rilke selbst hielt während seines ersten Russlandaufenthalts in einem Brief an Frieda von Bülow fest, seine Reise sei ihm bloß zur „Ergänzung“ früherer Eindrücke und Sinngebungen geworden; sie habe ihn – eher schicksalhaft denn gewollt – „zum nächsten Dinge geführt“: „Im Grunde sucht man in jedem Neuen (Land oder Mensch oder Ding) nur einen Ausdruck, der irgendeinem persönlichen Geständnis zu größerer Macht und Mündigkeit verhilft. Alle Dinge sind ja dazu da, damit sie uns Bilder werden in irgendeinem Sinn. Und sie leiden nicht dadurch, denn während sie uns immer klarer aussprechen, senkt unsere Seele sich in demselben Maße über sie. Und ich fühle in diesen Tagen, dass mir russische Dinge die Namen schenken werden für jene fürchtigsten Frömmigkeiten meines Wesens, die sich, seit der Kindheit schon, danach sehnen, in meine Kunst einzutreten!..“
Es ist durchaus staunenswert (und im übrigen kaum bekannt), dass sich bei Rilke „russische Dinge“ auch in russischer Sprache konkretisiert haben. Nicht nur hat Rilke das altrussische Slovo o polku Igoreve, Gedichte von Lermontov und Drožžin sowie ein Drama von Anton Cechov ins Deutsche übersetzt, er hat bereits um 1900 auch selber auf russisch Lyrik verfasst, insgesamt acht Gedichte, von denen drei in deutscher Rück-Übersetzung hier eingerückt seien:

Erstes Lied
... Abend. Beim Meer saß eine
Maid, wie die Mutter beim Kind.
Sie hat ihr Lied gesungen, alleine
lauscht sie nun dem flauen Wind,
des Meeres Atem fächelt;
Friede, Zuversicht – sie lächelt,
und wie leuchtend ist ihr Blick:
mehr als ein Lächeln – festlich
erhellt sich ihr Gesicht.

Das Kind wird an Fernstes rühren,
an den Himmel – wie das Meer.
Wird es Stolz oder Gram verspüren,
wiegt Flüstern, wiegt Stille mehr?
Du kennst nur die weiten Gestade,
sitzt nur da und wartest ab ...
Singst auch du ein Lied, doch schade –
es zu beseelen fehlt die Gabe,
ihm bleibt kein Leben und kein Schlaf.
(Schmargendorf, 29. November 1900)
Lied
Ich gehe und gehe, und noch immer
ist Heimat ringsum, ist Ferne – winderfüllt,
ich gehe und gehe und weiß nimmer,
dass ich auch andere Länder einst für Heimat hielt.

Und wie weit sind jene großen Tage
schon entrückt, die südlichen Gestade,
die süßen Untergänge einst im Mai;
dort ist alles Raum und Helle – aber jäh
verdunkelt sich der Gott ... das schmerzensreiche
Volk trat zu ihm hin, nahm ihn zu sich – als seinesgleichen.
(1. Dezember 1900)
Bin so allein
Bin so allein. Und keiner, der das Schweigen –
die Stimme meiner langen Tage – kennt.
Kein Wind, der meine beiden Augen
wie einen weiten Himmel offen hält.
Draussen steht ein grosser fremder Tag,
ein Ungeheuer, das am Stadtrand wacht.
Bin ich es selbst? Worauf ich warten mag?
Wohin hat sich die Seele aufgemacht?
(Entwurf, April 1901)

So hat sich Rilke sein „eigenes Russland, ein erdachtes Märchenland“ geschaffen, das seinerseits – vielfach und großartig vergegenwärtigt in seinem Werk – als eine künstlerische Schöpfung zu betrachten ist, als eine Art „Mythenpoesie“, wie man sie in Bezug auf Deutschland etwa von Marina Cvetaeva oder in Bezug auf Armenien von Osip Mandel’štam kennt. In einem späten Brief aus dem Walliser Schlösschen Muzot, wo er von einer jungen Russin hingebungsvoll betreut wurde, schrieb Rilke – teilweise in russischer Sprache! – kurz vor seinem Tod noch einmal an Leonid Pasternak, um darzutun, dass Russland, „diese unvergessliche heimliche Skaska (= Märchen)“, ihm zeitlebens „nah, lieb und heilig geblieben ist“, für immer „eingelassen in die Grundmauern“ seines Lebens.

Val-Mont. - Gleichsam blauer
Zahn im Margergras. Ein
Enzian. Einzig er.

Vonwegen. - Kleinchen aber
grün und
deutlich du. Machst nein. Wogegen ich.

Russisch. - „Mors” ist
männlich. Zu tränken
Durst.

Turg... - Rauhreif auf den Aufzeichnungen
eines Jägers. Das Buch lag aufgeschlagen am Fuss
der Buche. Über Nacht.

Eben. - Statt Leben
machen. Sind wir die Jetzten. Biss
in die Luft.