Die anfängliche Hochkonjunktur philosophischen Denkens im postsowjetischen Russland ist verhältnismäßig rasch einer weit reichenden Depression gewichen, die durch einen neuerlich aufkommenden apokalyptischen Jammerton bestätigt, wenn nicht gar verstärkt wird. Weithin ist die Rede vom „Drama“, von der „Tragödie“, ja vom „Tod“ der russischen Philosophie.
Igor’ Smirnov, engagierter Vordenker der Postmoderne in Russland und selbst ein Denker von Format, verbindet seinen angeblichen philosophischen Bankrott mit dem, wie er meint, unmittelbar bevorstehenden Untergang der Weltkultur. „Die ganze russische Philosophie war doch – Sch...se!... Liest die Welt russische Philosophen? Nein, die Welt liest russische Philosophen nicht.“ Doch was tut’s, da auch „die Welt“ dem Untergang geweiht und also abzuschreiben ist: „Schlimm, es auszusprechen; aber ich bin der Meinung, die menschliche Kultur hat sich erschöpft. Es gibt manche Symptome, die darauf verweisen, dass die Möglichkeiten, über die der Mensch stets verfügt hat, geschwunden sind. Ich sehe, um ein Beispiel zu nennen, das Ende der Humanwissenschaften gekommen... Man könnte weitere Beispiele dafür anführen, dass in unseren Tagen Abschied genommen wird vom Begriff des Menschlichen. Das Problem ist nur noch: Werden wir uns tatsächlich selbst den Abschied geben können?“
„Keiner tut etwas, aber alle philosophieren“, ließ schon Cechov (im Bühnenstück Cajka) verachtungsvoll verlauten. Dostoevskij wiederum hat der Philosophie verschiedentlich vorgeworfen, sie ersetze das Leben durch Theorien, die sie wiederum für das Leben ausgebe, und mehr als dies – sie behaupte die Wahrheit, statt in der Wahrheit zu sein; sie schärfe, sie erweitere das Bewusstsein und trage eben dadurch zum existentiellen Ungemach des Menschen bei: „Bewusstsein ist Krankheit. Nicht dass Krankheit aus Bewusstsein entstünde... Das Bewusstsein selbst ist die Krankheit.“ Das Bewusstsein, so wird später Boris Pasternak präzisieren, sei „ein Mittel der Selbstvergiftung“ für jeden, der es „an sich erprobt“.
„Ob hier der russische Charakter oder historische Bedingungen bestimmend waren, wage ich nicht zu entscheiden“, hat dazu, vor nunmehr hundert Jahren, Pavel Florenskij angemerkt: „Doch es gibt keinen Zweifel daran, dass sich die ‚Kopf‘-Philosophie bei uns nie hat durchsetzen können. Das altväterische Diktum, wonach der Verstand, wenn er nur eben Verstand ist, zu absolut nichts taugt, findet offenbar in allem Russischen seinen Nachklang.“ Vor diesem Hintergrund wird vielleicht einsichtig, dass und weshalb in Russland auch die jüngsten philosophischen Bemühungen eher dem „Bauch“ als dem „Kopf“ zuzuordnen sind, und vielleicht ist man so auch eher bereit, die Literatur als Medium wie als Gegenstand der Philosophie gelten zu lassen.
Igor’ Smirnov, der in seinem Buch Homo homini philosophus (1999) so etwas wie eine posthumane (oder präapokalyptische) Anthropologie entworfen hat, praktiziert solche „Selbstzuwendung“ neuerdings dadurch, dass er in bekenntnishaften „Briefen“, „Gesprächen“ und „Zeugnissen“ mit rüder Diktion von eigenen Körpererfahrungen (Alkoholmissbrauch, Geschlechtlichkeit u.a.m.) berichtet, sich mit Vorliebe über Narzissmus, Schizophrenie, Homosexualität und Gentechnologie auslässt, um schließlich – angesichts eines Phänomens wie der Love Parade – die Frage zu stellen: „Vermag der Mensch ausschließlich als Körper zu existieren? Kann der Mensch ohne Ideen leben? Kann sich der Mensch in eine Maschine verwandeln, sich selbst ersetzen durch ein elektronisches Gerät oder einen Klon?“
Das ist nun gewiss keine spezifisch russische Fragestellung, aber die Art und Weise, wie hier philosophisches Räsonieren autobiographisch beglaubigt und narrativ umgesetzt wird, ist durchaus repräsentativ für eine geistreiche, eher auf Provokation denn auf Reflexion angelegte Essayistik, die sich mehr und mehr der Belletristik annähert. Beispielhaft dafür sind, mit und neben Smirnov, Autoren wie Aleksandr Pjatigorskij, Michail Gasparov (Zapisi i vypski), Aleksandr Žolkovskij, Dmitrij Galkovskij oder Fedor Girenok.
Die wahre „Philosophie“, als Liebe zur Weisheit, ist in Russland seit jeher mehrheitlich außerhalb akademischer Institutionen und unabhängig von entsprechenden Gepflogenheiten praktiziert worden, Philosophie bleibt hier, sieht man vom ideologischen Systemdenken der einstigen Sowjetphilosophie ab, weitgehend darauf beschränkt, sich über Gott und die Welt „Gedanken zu machen“ oder eben, im eigentlichen Wortverständnis, zu „philosophieren“ (filosovstvovat’) – systemfrei und begriffsschwach.
Merab Mamardašvili, der auf Grund seiner erst postum veröffentlichten Variationen und Meditationen (über Descartes, Kant, Tolstoj, Proust u.a.m.) in den vergangenen Jahren zum wohl populärsten Philosophen Russlands avancierte, hat seinen letzten öffentlichen Auftritt im Oktober 1990 mit einem gleichsam testamentarischen Selbstbekenntnis eingeleitet, das durchaus auch als allgemeine Charakterisierung dessen gelten kann, was man sich unter „typisch russischer“ Philosophie vorzustellen hat: „Philosophie ist kein Beruf, sondern ein Temperament, eine Lebensart, und ich kann deshalb keinerlei Wissenssumme vermitteln, kann lediglich etwas vollkommen Intimes wiedergeben, das für das Verstehen entsprechend riskant ist.“ Von daher erklärt sich wohl auch die Tatsache, dass heute in Russland alle Arten von Lebensdokumenten – private Aufzeichnungen, Erinnerungen, Briefe – als Dokumente einer subjektiven „Realphilosophie“ aufgefasst und oft höher eingeschätzt werden als die diskursiven Hervorbringungen professioneller Philosophen.
Mamardašvili hat dazu, verallgemeinernd, wiederum ein paar Sätze notiert, die für das Selbstverständnis der russischen Philosophie insgesamt aufschlussreich sind: „Philosophie braucht nicht unbedingt in Form von Lehren vorzuliegen. Sie kann ganz einfach Philosophie auf dem jeweiligen Bewusstseinsstand eines Schriftstellers, eines Künstlers, eines Gelehrten, jedenfalls einer Einzelperson sein. Die professionelle Philosophie expliziert ja bloß und überträgt in eine spezielle Terminologie das, was unabhängig von ihr in anderen Kulturbereichen vorhanden ist. Man lasse sich deshalb nicht irritieren, wenn Philosophie an gänzlich unerwarteter Stelle auftritt, und nicht allein auf philosophischen Lehrstühlen. Übrigens ist sie gerade auf solchen Lehrstühlen am wenigsten zu finden.“