Felix Philipp Ingold: LyrikText

Felix Philipp Ingold

Der ewige Monat Märzember

31 Tagesblogs über alles und noch viel mehr *

 

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Zu meinen ersten Lesevorlagen gehörte in der frühen Schulzeit die Senderskala unsres Radioempfängers, der damals nicht mehr (wie in der Kriegszeit) in der Küche stand, sondern im Wohnzimmer auf einer grob geschreinerten, leicht nach Harz (oder einfach nur nach Holz?) duftenden Kommode. Es war ein neues Gerät mit runder Drehskala, in deren Mitte das magische grüne Aug sass. Um die Knöpfe zu erreichen, musste ich einen Stuhl heranrücken, kletterte hoch und hatte dann die Skala unmittelbar vor mir. Da wir in der ersten Klasse grade mit den Grossbuchstaben beschäftigt waren, interessierten mich vor allem die auf der Scheibe − ebenfalls in Grossbuchstaben − eingetragnen Wörter, von denen ich noch gar nicht wusste, dass es die Bezeichnungen der Sender waren. Die Wörter waren teils in gelber, teils in grüner oder roter Schrift auf der Skala eingetragen, vermutlich aufgeteilt nach Lang-, Mittel-, Kurzwellenbereich. Beim Dranherumdrehn buchstabierte ich Namen wie TURKU, TOULOUSE, TIRANA oder auch MONTECARLO, BEROMÜNSTER, RIAS und, besonders geheimnisvoll, CSR, AFN, RFB und ähnliches mehr. Es bereitete mir Vergnügen, die Wörter in den drei Farbfeldern, eins nach dem andern, zu entziffern, obwohl ich sie weder aussprechen noch

 

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irgendwie einordnen konnte. Dass es sich dabei nicht um gewöhnliche Wörter wie im Leseheft oder auf der Wandtafel handelte (Wörter, die eine bestimmte Bedeutung hatten), vielmehr um Namen, die man nur kennen, nicht aber verstehen musste, war mir ganz und gar unklar. Dennoch, womöglich grade darum, faszinierten sie mich immer wieder, allein durch ihre Schriftgestalt und durch den − vermutlich völlig falschen − Klang, den ich ihnen gab.

 

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Selbstgeschriebnes im Nachgang (etwa beim Korrigieren, später in der Druckfassung) überhaupt als mein Eignes zu erkennen, fällt mir meist schon nach kurzer Zeit auffallend schwer, während mir fremde Texte nicht selten so vertraut vorkommen, als wären sie unter meiner Hand entstanden.

Die Scheu, fast schon Abscheu vor der eignen Produktion wäre als eine spezifische Art von Psychopathologie vermutlich  leicht zu erklären. Ich selbst führe sie eher auf meine wohl längst verinnerlichte Überzeugung zurück, dass es den Autor als souveränen Schöpfer von Originalwerken (wie Giacomo Leopardi und seinesgleichen es für sich in Anspruch nehmen und zu praktizieren glauben) nicht gibt, nie gegeben hat; dass Autorschaft, weit weniger anspruchsvoll, lediglich als

 

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Beihilfe zur Werkentstehung beitragen kann, nicht also durch ein erst- und einmaliges Schöpferwort, sondern einzig durch Akkumulation, Disposition, Verknüpfung, Arrangement von immer schon vorgegebenen Materialien, vorgegeben durch Sprache und literarische Überlieferung, durch Erfahrung und Erinnerung, Materialien disparater Art und Qualität mithin, aus denen das Werk unter Schriftführung des Dichters, des Erzählers sich ergibt und eben keineswegs ganz neu geschaffen wird.

 

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Immer wieder das Problem, die Frage: Wie sag ich's dem Freund, dem Kollegen, dass ich an seinem Werk − an diesem oder jenem Text − weder Interesse noch Gefallen finde, deswegen auch nichts damit anfangen kann? Nur selten gelingt's (eigentlich nie), Person und Autor auseinanderzuhalten, jene nicht an diesem zu messen, beide auch nicht zu vergleichen. Ich selbst allerdings fühle mich keineswegs betroffen, wenn jemand aus meiner Umgebung kritisiert, ablehnt oder einfach nicht mag, was ich da und dort veröffentlicht habe. Warum denn auch! Was ich schreibe, das bin ich ja nicht, und was ich geschrieben habe, das habe ich nicht. So weit, so klar. Doch kaum jemand macht den Unterschied. Kritik am Text wird

 

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gemeinhin als persönliche Beleidigung und nicht als sachliche Einwendung registriert. Die Selbstidentifikation des Autors mit dem Corpus seines Werks ist vielfach belegt durch Bekenntnisse wie "das Schreiben ist lebensnotwendig für mich", "dem Schreiben ist bei mir alles untergeordnet", "wer mich am Schreiben hindert, bringt mich um" oder auch, als ganz und gar ironiefreie Ansage, "für meine Literatur geh ich über Leichen"; usf. Auch der kommune Sprachgebrauch bestätigt die leibhaftige Präsenz des Schriftstellers im Text, lässt er es doch zu, einen Autor, eine Autorin zu lesen und sie damit zum direkten Objekt zu machen: Aber wen oder was hat man gelesen, wenn man "Kafka", "Leiris", "Mahen" gelesen hat? Und liest man tatsächlich "Mann" (und welchen Mann?), wenn man "Professor Unrat" liest oder "Die Bekenntnisse des Felix Krull"? Die spontane, dennoch geradezu zwanghafte Gleichstellung von Werkautor und Privatperson geht vermutlich auf die uralthergebrachte Sehnsucht zurück, sich ohne sprachliche (und damit notwendigerweise verfälschte, notwendigerweise unvollständige) Vermittlung zur Gänze auszudrücken, in dem

 

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apophatischen Grundverständnis, kraft des Schweigens selbstredend zu sein. Autorschaft würde sich damit erübrigen, wäre auf Sprache und vollends auf Text nicht mehr angewiesen: Der Mensch selbst würde zum sprachlosen Bedeutungsträger und könnte sich als leibhaftiges Sprachwerk ohne Worte behaupten. Paradiesische Vorstellung! Rezent noch heute?

 

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Die Alten! Die Griechen! Die Eos! Heute früh der Ausmarsch ins Graue, dann sehr allmählich die Aufhellung, die Grisaille durchwirkt mit feinsten rosigen und bläulichen Schlieren, kaum merklich und dennoch, vielleicht deshalb eben, von besondrer farblicher Intensität: Diskrete Sensation. Die Rosenfingrige scheint nicht nur, sie ist's.

 

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Zu meinen bevorzugten Spielplätzen gehörte in meiner frühen Jugendzeit das sogenannte Dreiländereck, das auf einer schmalen Mole mitten im Basler Rheinhafen durch einen mickrigen Flaggenmast gekennzeichnet war, an dem die ineinander verknäulten Fahnen Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz meist schlaff herabhingen. Es dauerte etwas, bis

mir bewusst wurde, dass die an dieser Stelle verknoteten Staatsgrenzen auch Sprachgrenzen waren. Dass es sich zum Beispiel bei den deutschen Apfelsinen schlicht um Orangen handelte, und nicht um eine spezielle Art von Äpfeln, oder dass "Fahrrad" nur einfach die deutsche Bezeichnung für das bei uns übliche Velo war. Anderseits waren die Schlepp- und Lastschiffe im Rheinhafen für mich der Beweis, dass die Grenzen fliessend waren, dass man über sie hinweg gleiten konnte, ganz gleich, welche Landesflaggen am Heck angebracht und welche fremdartigen Namen in grossen Lettern am Bug aufgemalt waren. Für eine "Bloody Mary", eine "Kunigunde", "La Belle Jehanne", die "Loreley", "Fortinbras", "Rheingold", eine "Alpenrose" oder "Le Gaulois" konnte es … durfte es, dachte ich, keine Grenzen geben.

                                          

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Insgesamt fünfeinhalbtausend Eintragungen finden sich in den sogenannten Sudelheften, die Georg Christoph Lichtenberg − Physiker, Philosoph und Literat in Göttingen − zwischen 1764 und 1799 vollgeschrieben hat. Postum sind die meist beiläufigen, eher fahrig formulierten Aufzeichnungen pauschal als "Aphorismen" geadelt und schon bald als Lichtenbergs Hauptwerk ausgewiesen worden; und mehr als das: Man feierte und feiert den Autor als Schöpfer der deutschen Aphoristik − mit dieser Textsorte bleibt sein Name verbunden, auf Grund der "Aphorismen" ist er als Klassiker in den Kanon eingegangen, obwohl er eine Vielzahl andrer, ebenso starker Schriften hinterlassen hat. Bekommt man, auf insgesamt 1000 Druckseiten, all die sogenannten Aphorismen in chronologischer Abfolge (und also nicht nach Themen gruppiert) zu Gesicht, erkennt man rasch, dass Aphorismen − im gattungspoetischen Verständnis − bei Lichtenberg eine eher untergeordnete Rolle spielen; dass demgegenüber spontane Anmerkungen zum zeitgenössischen Literatur- und Wissenschaftsbetrieb oder auch zur eigenen Befindlichkeit deutlich überwiegen,

 

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eingeschlossen polemische Interjektionen ad personam oder generell gegen die Vertreter gewisser Berufe, Konfessionen und, nicht selten, des weiblichen Geschlechts wie auch - eher unerwartet bei einem "aufgeklärten" Denker vom Rang eines Lichtenberg - der jüdischen Rasse. Dazu kommen Witze, Kalauer, Paradoxien aller Art. Weitgehend unbeachtet sind anderseits jene Lichtenbergschen Notate geblieben, deren Zweck und Sinn dahinstehn, weil man sie auf keinen eruierbaren Gegenstand, auch keinen eruierbaren Adressaten beziehen kann − sie stehn einfach da, schwarz auf weiss, und sprechen, da sie keine nachvollziehbare Bedeutung freigeben, gewissermassen für sich selbst. Es handelt sich dabei um mehrheitlich sehr kurze, bisweilen abstrus, aber doch auch poetisch wirkende Texte, die rein formal durchaus mit Aphorismen zu vergleichen wären, nur dass ihnen die notwendige aphoristische Schärfe − die Pointe − und damit die wesentliche  Qualität des Genres abgeht, nämlich unmittelbar einzuleuchten und zu erhellen. − Hier ein paar Beispiele für diese

 

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besondere Art von "Sudelsätzen", die man nicht verstehen, über die man sich bloss wundern, ärgern, amüsieren kann und die in den vielen populären Auswahlbänden von Lichtenbergs "Aphorismen" nicht zu finden sind:

 

"Beym Unterricht in der Geographie, einen König von Portugal zu ernennen pp gehört mit zum Verschencken der Fixsterne." − "Es kostete den Kerl Mühe dieses Paar Tage über die Etikette nicht zu stehlen mit zu machen." − "Bajonetten-Ruh ein Lustschloss." − "Er trieb einen kleinen Finsterniss-Handel." − "Die mit Garnerin aufgestiegene Dame hiess Henry Celestine." − "Das Verschencken der Fixsterne ist ein Hauptzug." − "Republikettchen, oder eine ecclesiola unter der Erde." − "Ҫa ira, Ca-ira, Kahira Cairo." − "Bis zum Pesseräh und Buschmann." − "Ein schwartzer qu'on touche." − "Die Combabische Art zu überführen." − "Wenn man eine Kröte darauf bindet oder es von einem Printzen angreifen lässt." − "Den Buckel mit birkenem Pinsel blau bemalen." − Usf.

 

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Bleibt anzumerken, dass der Nonsense solcher und ähnlicher Notate keineswegs von Lichtenberg beabsichtigt war, sei's zur Verulkung, sei's zur Belustigung seines Publikums; für ihn selbst, der den jeweils gegebenen Kontext natürlich kannte, dürften all diese Stenogramme, als Gedankenstütze, ebenso klar wie nützlich gewesen sein. Nur für uns Uneingeweihte mutiert das Banale zum Wundersamen und rührt das vermeintliche Unsinnige ans Poetische.

 

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Ausgiebig und kontrovers ist in jüngster Zeit die Rede von Kopie und Plagiat als obsoleten Kulturtechniken, vermehrt aber auch als eigenständigen künstlerischen Verfahren. Dass diese vermeintlich neuen, jedenfalls von den "neuen Medien" begünstigten und fortentwickelten Verfahren einer weit zurückreichenden kulturellen Tradition zugehören und was diese Tradition – vorab im Bereich der Literatur und Philosophie – hervorgebracht hat, ist noch immer viel zu wenig bekannt oder wird als minderes Nebenprodukt gegenüber dem Kanon marginalisiert. Tatsache ist jedoch, dass ausser den diskursbildenden "Autoren"

 

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auch die "Skribenten" Wesentliches zur literarischen und philosophischen Kultur beigetragen haben – ohne jene "Kopisten" und "Plagiatoren", die aus kompilierten Texten eigenständige Werke in Form von Anthologien oder Kentonen geschaffen haben, wäre manch ein kanonisierter Autor gar nicht erst in die Überlieferung eingegangen. Beispiele dafür sind die zehnbändige Textsammlung des Diogenes Laertios aus dem 3. nachchristlichen Jahrhundert oder Giorgio Vasaris gesammelte Künstlerviten und –zitate aus dem 16. Jahrhundert, aber auch die Märchen der Brüder Grimm und Gustav Schwabs "Sagen des klassischen Altertums", die als geschönte und geschickt arrangierte Kompilate zu eigenständigen Textsorten geworden sind. Am Eingang zur Moderne hat der russische Schriftsteller Lew Tolstoj diese Tradition erneut aufgenommen, indem er mehrere umfangreiche Werke aus willkürlich ausgewählten Fremdtexten komponierte. Mit entsprechenden anthologischen Kompilaten, die man dem aktuellen Genre der Appropriationsbelletristik zuordnen könnte, haben sich, unter andern, David Shields ("Reality Hunger"), U. D. Bauer ("o. T."), Kenneth

 

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Goldsmith ("Uncreative Writing") einen Namen gemacht. Gleichwohl gelten Werke dieser Machart, vorab im Bereich der sogenannten schönen Literatur, weithin als obsolet.

 

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Immer wieder, immer häufiger treffe ich bei meinem täglichen Waldgang diese zierliche alte Dame an. Meist steht sie, rauchend, an einen Baum, an einen Zaun gelehnt, zu ihren Füssen ein winziger, aufwendig frisierter Hund, mir zugewandt ihr verwüstetes, grell geschminktes Gesicht, das umrandet ist von einem Stirnschleier und hochstehenden Pelzkragen. Noch jedesmal spricht sie mich, ruft sie mich schon aus der Ferne an, fragt mich − jedesmal − , ob ich denn nicht friere, fügt dann hinzu, ihr gehe es gut, es gehe ihr ausgezeichnet, und übrigens − nun zeigt sie mit der Zigarette zum Himmel − dort oben die Häher, ob ich sie gesehen habe, ob ich sie sehen könne, wie herrlich ihr schwebender Flug doch sei, dieses leichte Rudern beim Gleiten, dieses Gleiten gegen den Luftzug hinauf … und übrigens − sie schaut mich nun aufmerksam und irgendwie liebevoll an − ob ich "denn eigentlich Slips oder oder Strings oder Boxer" trage?

 

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In seinem 1951 veröffentlichten Essay über "Probleme der Lyrik" qualifiziert Gottfried Benn die Sprachkunst der Moderne als ein strenges Handwerk, das sich zwar hauptsächlich an formale Kriterien halte, dabei aber, bei all seiner Willkür, stets auf den Grundimpuls eines "dumpfen schöpferischen Keims" angewiesen bleibe. Worte, so heisst es bei Benn, gehören zum Rüstzeug des Autors, sie müssen von ihm vollkommen beherrscht und "artistisch" eingesetzt werden. Dennoch sind sie mehr als nur sprachliches Roh- und Baumaterial ‒ "sie sind einerseits Geist, aber haben andererseits das Wesenhafte und Zweideutige der Dinge der Natur". Das ist eine eher vage Funktionsbestimmung, ist eher Behauptung denn Erklärung, doch wie wäre das "Dumpfe", das "Schöpferische" definitorisch zu fassen, ohne es in seiner unentwegt "keimenden" Lebendigkeit und Wirkungskraft einzuschränken? In der künstlerischen Literatur kommt auktoriale Willkür ganz offenkundig zum Tragen, Willkür – zum Beispiel ‒ bei der Durchsetzung von zeiträumlichen Fakten, Verhältnissen und Abläufen, die in der erfahrbaren Realität "unmöglich", in der Möglichkeitswelt jedoch durchaus "real"

 

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sind. Der literarische Autor, ob Grosschriftsteller, hermetischer Lyriker oder unbedarfter Schreiberling, kann zum Beispiel, wie Alexandre Kojève einst in Bezug auf „das Buch“ generell ausgeführt hat, "jenen Hund unter diesen Tisch setzen, selbst wenn beide in diesem Augenblick durch eine Entfernung von tausend Kilometern voneinander getrennt sind. Nun ist aber diese dem [sprachlich verfassten] Denken eigene Macht, die Dinge zu scheiden und wieder zu verbinden, tatsächlich 'absolut', denn keine wirkliche verbindende oder abstossende Kraft ist mächtig genug, um sich ihr zu widersetzen." − Auf solche Art, meint Kojève, schaffe und gestalte der Autor als schöpferischer Mensch innerhalb der real gegebenen ("natürlichen") Welt eine mögliche ("kulturelle") Welt, die ebenso singulär und konsistent sei wie jene. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich künstlerische Autorschaft durchaus als eigenmächtiges Schöpfertum begreifen, dessen Hervorbringungen, möglich und real zugleich, einen spezifischen, zutiefst paradoxalen Wirklichkeitsstatus haben. Mit dem Sozialphilosophen Albert O. Hirschman könnte man in diesem Zusammenhang von einer

 

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besondern Spielart des "Possibilismus" reden, der die Erforschung der Wirklichkeit konsequent mit der Befragung der in ihr angelegten Möglichkeiten verbindet. − Doch schon bei Robert Musil findet sich (in "Der Mann ohne Eigenschaften") die Forderung, den empirischen Wirklichkeitssinn durch den "Möglichkeitssinn" dezidiert zu erweitern, das heisst eine sinnliche Fähigkeit zu entwickeln, "alles, was ebensogut [wie die Wirklichkeit] sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist". Am höchsten sieht Musil diese gemeinhin unterschätzte Fähigkeit bei Kindern und Träumern entwickelt; am ehesten müssten aber Künstler und Literaten dafür disponiert sein, sich auf Möglichkeitswelten nicht nur einzulassen, vielmehr solche auch zu schaffen. − Waldgang bei Nacht; Taschenlampe vergessen; es gibt nur das klar gepunktete Sternenlicht im kahlen Gezweig. Die Wege sind ausgelegt mit einer dicken schwarzen Schicht verfaulender Blätter, die sich vom schwach erhellten Dunkel kaum noch abheben und von denen die Wegränder verwischt werden. Obwohl ich die Strecke − jede Biegung, jede Steigung, jedes Hindernis −

 

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seit langem kenne, komme ich zwei-, dreimal vom Weg ab und weiss nicht mehr wirklich, wo genau ich mich befinde. Am Boden, den ich tastend abschreite, schimmert da und dort ein abgefallenes Blatt, das noch einen Rest von Gelb bewahrt hat, doch zur Erhellung reicht das ebenso wenig wie das karge kalte Licht, das von ungeheuer oben kommt. Ohne Sturz, ohne grössere Verirrung erreiche ich den Waldausgang, muss aber feststellen, dass es draussen, unter freiem Himmel, kaum heller ist als zuvor zwischen den dicht stehenden Bäumen. In den feinen Regen mischt sich mehr und mehr Schnee. Ich kann so gut wie nichts mehr sehn, finde aber, mich am Drahtverhau der Kuhweide entlang hangelnd, ohne Ab- und Umweg heim.

 

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Von Oskar Pastior weiss man (er selbst hat es, nicht ohne Pathos, öffentlich gemacht), dass er "Bedeutung" hasste. Bedeutung hassen? Bedeutung und Sprache sind so wenig zu trennen wie Sprache und Literatur. Ein Wortkünstler wie Pastior, der Bedeutung − aus welchem Grund auch immer − sanktioniert, kommt naturgemäss in Konflikt mit der Sprache.

 

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Was also tut er … was muss er tun, der doch intim mit Sprache zugang ist, um Bedeutung zu vermeiden? Pastior hat dafür bekanntlich so etwas wie ein poetisches Computeridiom entwickelt, eine Kunstsprache, die weitgehend auf ihre Lautlichkeit und ihr Verlauten (beim Rezitieren) zurückgesetzt ist und nur noch ansatzweise über eine semantische Dimension verfügt. Diese Sprache soll, unbelastet und ungetrübt von Bedeutung, als Klangereignis Bestand und Wirkung haben. Der Dichter instrumentiert sie auf ingeniöse Weise so, dass sie möglichst nichts aussagt, nichts zu verstehn gibt, vergleichbar einem Pianisten, der sein Klavier als Schlagzeug oder als Zupfinstrument einsetzt. Gewiss werden der Sprache wie auch der Musik durch solchen Missbrauch ungewohnte Töne und Intonationen abgewonnen, zugleich verliert sie aber, mehr oder minder weitgehend, ihre eigentliche Funktion − das Bedeuten und Besagen. Pastior hat beim Komponieren seiner Dichtwerke stets nach strengen formalen Vorgaben gearbeitet, die Sprache diente ihm dabei als bedeutungsneutrales Rohmaterial, und vermutlich hätte dieses Material auch mit digitalen

 

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Verfahren "dichterisch" aufbereitet werden können. Mathematisch konzipierte, mechanisch und maschinell hergestellte Poesie war auch schon in frühern Zeiten ein Faszinosum. Heute, Jahre nach Pastiors Tod, mag sich die Frage stellen, ob ein Computer − nun in der Funktion eines "Autors" − sein dichterisches Werk postum in der gleichen Art fortzuschreiben und akustisch vorzutragen vermöchte, wie er's zu Lebzeiten, noch ohne Computer, programmiert hat. Vermutlich würde sich herausstellen, dass es zwischen der künstlerischen und der künstlichen Produktion derartiger Texte nur minimale Unterschiede gibt: Die computergenerierten Gedichte wären ihrer Form nach fehlerlos, die handwerklich gefertigten wären wohl mit kleinern Fehlern behaftet, vielleicht gar mit gewollten Regelverstössen. Doch was lehrt uns das nun? Was ändert sich dadurch, wenn denn überhauot, am Rang von Oskar Pastor, an der Qualität und Eigenart seiner Texte?

 

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Eine interessante Begriffserweiterung für das literarische Fragment schlägt der Schriftsteller Claude Alain Sulzer vor: Als fragmentarisch hätten demnach auch solche Texte zu gelten,

 

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deren Lektüre vorzeitig abgebrochen wird, ausserdem solche, so könnte man hinzufügen, die nur stellenweise − da ein paar Seiten, dort ein paar Seiten − gelesen werden. Bei diesem Verständnis würde sich die Anzahl der Fragmente naturgemäss um ein Vielfaches vermehren, so dass man auf den Gedanken … auf die Frage kommen könnte, ob letztlich nicht überhaupt so gut wie alle Literaturwerke als Fragmente zu begreifen sind. Denn kein Text beginnt bei Nichts, jeder Text hat einen Prätext, der ihm vorangeht und auf den er Bezug nimmt, und kein Text hat ein definitives Ende, an das nicht wiederum ein weiterer Text anzuschliessen wäre. Literatur insgesamt bestünde also, demzufolge, aus lauter Teilstücken, die sich zu einem ständig bewegten, ständig expandierenden, nie abschliessbaren Puzzle mit ausfransenden Rändern fügen? Eine Vorstellung, die im weltweiten Internet eine reale Entsprechung findet.

 

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Ausgedehnter Waldgang heute unter leichtem Regen; in der frischen Nässe schimmert das verrottende Laub gerade noch einmal in allen Registern von Rot; keine Vögel zu hören, kein

 

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Knacken im feuchten Unterholz, nur immer der anhaltende Regenfall, den ich als ein feines kompaktes Rauschen wahrnehme, im verwunderten Gedanken daran, dass doch jeder Tropfen, der da fällt, seine singuläre Eigenart hat − keiner ist gleich gross wie der andre, keiner kommt aus gleicher Höhe, jeder nimmt seinen eignen Weg durch die wehende Luft und jeder hüpft auf seine Weise durch das löchrig gewordne restliche Laubwerk, immer hinab, von Blatt zu Blatt, von Ast zu Ast. All diese unzählbaren und ununterscheidbaren minimalen Klangereignisse finden hier und jetzt symphonisch zusammen; wenn auch bloss "sozusagen".

 

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Die oft sehr langen Besetzungslisten zu Theater- und Filmproduktionen lese ich … habe ich schon immer als (eine Art von) Totenlisten gelesen. Das gilt keineswegs bloss für weit zurückliegende Inszenierungen. Denn in jedem Fall ist es ja so, dass diese Schauspielerin oder jener Schauspieler in dem Moment, da das Rollenspiel abgeschlossen ist, die jeweils dargestellte "Person" − Person bedeutet ursprünglich Maske, auch Klangraum − hinter sich

 

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lässt und in ein andres, nämlich das reale, also sein eignes Leben eintritt. Noch jedesmal, wenn der Vorhang sich senkt, wenn der Abspann beginnt, endet das Leben der auf der Bühne, auf der Leinwand, auf dem Monitor anwesenden Spielfiguren − sie werden von ihren Darstellern notwendigerweise zurückgelassen und überleben, wie alle Toten, einzig in der Erinnerung oder Vorstellung derer, die ihnen im theatralen Raum begegnet sind: Der theatrale Raum ist nichts andres als der reale Raum des "Schauspiels", der reale (wie immer konzipierte) "Lebensraum" der dargestellten Bühnen- oder Filmfiguren, deren "Tod" unabwendbar mit dem Ende des Stücks besiegelt ist. 

 

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Ausgedehnter Waldgang heute unter leichtem Regen; in der frischen Nässe schimmert das verrottende Laub gerade noch einmal in allen Registern von Rot; keine Vögel zu hören, kein Knacken im feuchten Unterholz, nur immer der anhaltende Regenfall, den ich als ein feines kompaktes Rauschen wahrnehme, im verwunderten Gedanken daran, dass doch jeder Tropfen, der da fällt, seine singuläre Eigenart hat − keiner ist gleich gross wie der andre,

 

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keiner kommt aus gleicher Höhe, jeder nimmt seinen eignen Weg durch die wehende Luft und jeder hüpft auf seine Weise durch das löchrig gewordne restliche Laubwerk, immer hinab, von Blatt zu Blatt, von Ast zu Ast. All diese unzählbaren und ununterscheidbaren minimalen Klangereignisse finden hier und jetzt symphonisch zusammen; wenn auch bloss "sozusagen".

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Aus welchen Wurzeln, Quellen, Zufällen die Wörter kommen! Man könnte tatsächlich meinen, wenn man ihrer Geschichte und Bedeutung nachgeht, sie seien "im Anfang" schon immer gewesen. Damit lässt sich leicht die Vorstellung verbinden, wonach Wörter und Namen, einmal gesetzt, gleichsam organisch erwachsen und dabei allmählich ihre Sprachform, auch ihre Bedeutung modifizieren. Anders ist es, versteht sich, bei gewollten beziehungsweise willkürlichen Neubildungen. Diese sind in aller Regel verhältnismässig genau zu datieren, man kennt ihr sprach- und zeitgeschichtliches Umfeld, oft auch ihre individuellen "Schöpfer". Dies ist der Fall bei dem unverfänglichen Einsilbler "Gas", einem

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Begriff, dessen Quelle man in der Wissenschaftssprache vermutet; von dort wäre er nachfolgend in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangen. Nach heutigem Forschungsstand geht das Wort "Gas" auf das mittlere 17. Jahrhundert zurück. Erstmals findet es sich in einem medizinischen Handbuch, dessen Verfasser, Johan Baptista van Helmont, den Neologismus explizit für sich in Anspruch nimmt: "In Ermangelung eines Namens habe ich mir die Freiheit zum Ungewöhnlichen genommen, diesen Hauch Gas zu nennen, da er sich vom Chaos der Alten nur wenig unterscheidet.“ Gemeint war damit eine „rohe, gestaltlose Masse, luftleerer Raum“, ein Aggregatzustand, den man zuvor als Hauch oder, nach Paracelsus, als "luftförmigen Dampf“ bezeichnet hatte. Es brauchte noch einmal zweihundert Jahre, bis das Wort "Gas" umgangssprachlich übernommen wurde. Erst die technischen Neuerungen des Ballonfahrens und der öffentlichen Gasbeleuchtung machten den Neologismus in vielen Sprachen populär. "Gas" ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass sich Wortneubildungen nur dann durchsetzen können, wenn sie in der normalen

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Erfahrungswelt eine nachhaltige Entsprechung finden. Das ist nur ausnahmsweise der Fall. Mehrheitlich verschwinden sprachliche (auch dichterische) Neologismen ebenso rasch, wie sie jeweils aufgekommen sind − ihre "Schöpfer" haben darauf keinen Einfluss, entscheidend ist allein ihre Tauglichkeit für den allgemeinen Sprachgebrauch.

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Eine Autobiographie, Memoiren oder sonstige Selbsterlebensprosa zu schreiben, ist weder vom Stoff, noch von der literarischen Form her mein Interesse, schon gar nicht mein Projekt. Wozu … für wen denn nachschreiben, was man erlebt hat! Und dies im Wissen, dass Erlebtes (und speziell: Erlittenes) sprachlich ohnehin nicht adäquat zu fassen ist, also in jedem Fall, ob zum Positiven, ob zum Negativen hin, verfälscht wird. Auch das Eigenste entgeht der Verfremdung nicht. −            Wirklich "wahr", wirklich "originell" kann doch nur Erfundenes sein. Der Lebensgang des Odysseus, des Aeneas, des Ritters von der Traurigen Gestalt wird, als literarische Fiktion, der "Wirklichkeit" des Lebens eher gerecht als dessen dokumentarische Aufarbeitung. Im Fremden, Andern kommt Eignes oftmals authentischer zur Erscheinung.

 

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Wenn ich aber, statt mein Leben mit all seinen Verästelungen und Gegenläufigkeiten erzählerisch in die Kontinuität zu zwingen, sondierend vorgehe und mich − eher nach Zufall denn nach Chronologie − auf einzelne Momente, Impressionen, Aha!-Effekte konzentriere, gelingt's vielleicht eher, Selbsterlebtes sprachlich (nicht unbedingt literarisch) auf den Punkt zu bringen. Minuten, Sekunden intensiver sinnlicher Wahrnehmung, auf solche Weise möglichst präzis gefasst, können eine Person, ein Leben, gar eine Epoche glaubwürdiger vergegenwärtigen als jede episch angelegte Panoramafahrt.

           

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Von Johann Sebastian Bachs Solokompositionen − für Violine, Violoncello, Orgel, Cembalo beziehungsweise Klavier − besitze ich ein Dutzend Vinylplatten und ein halbes Hundert Einspielungen auf CD mit vielen verschiednen Interpreten. Eigentlich könnte ich es, mit Rücksicht auf die schwindende Lebenszeit und abnehmende Plastizität des Gehörs, dabei bewenden lassen … es gut sein lassen. Doch immer wieder bietet sich, ohne irgendeine Suchbewegung meinerseits, die Gelegenheit, die Sammlung um noch ein Stück (und noch ein

 

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Stück!) zu vergrössern. Wie unlängst, als ich in der Wühlkiste eines Antiquariats zwischen verregneten und entsprechend verquollenen Taschenbüchern auf eine CD mit Bachschen Klavierwerken stiess, ein typisches, eher unattraktives Potpourriangebot, das eine Vielzahl kurzer Einzelstücke, aber keins der Werke in vollständiger Fassung verzeichnete. Wenn ich dennoch zugriff und für die gebrauchte CD zwei Euro einsetzte, so deshalb, weil es sich um eine alte Aufnahme von Tatjana Nikolajewa handelte, eingespielt 1980 in Moskau für ein längst vergessnes tschechisches Label und ... aber wie eingespielt! Die Kleinteiligkeit des Programms und selbst die Tatsache, dass es unter den dargebotnen Stücken auch mehrere Transkriptionen und sonstige Bearbeitungen gab, änderte (und ändert weiterhin) nichts am künstlerischen Wert der Aufnahme. Die Nikolajewa geht die Werke so subtil, gleichzeitig so zupackend an, dass man meinen könnte − und glauben möchte! − , sie sei gerade dabei, die Musik zu erfinden, genauer: sie zu erhören und sie dabei gleich auch zum erstenmal erklingen zu lassen. Es ist ein zögerndes, zugleich ein hingerissnes Spiel, das sich als

 

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souveräne Suchbewegung und, wiederum gleichzeitig, als technische und interpretative Problemlösung behauptet. Die Besonderheit dieser Vortragsweise wird zusätzlich dadurch hervorgehoben, dass die aufgenommenen Stücke durch ungewöhnlich lange Pausen voneinander getrennt sind. Die populär sein wollende Werkauswahl gewinnt dadurch einen gänzlich andern Charakter, sie entfaltet sich unter Tatjana Nikolajewas Händen zu einem integralen Werk, das Bach so nicht komponiert hat, das aber die Interpretin, in seinem Sinn, auf ihre unverwechselbare Weise stets von neuem so arrangiert.  − Nicht erst seit der zufälligen Entdeckung dieser Aufnahme lasse ich mich beim Gedichtschreiben von den Bachschen Solowerken "begleiten", am liebsten von den Cellosuiten, den Goldbergvariationen. Diese Simultaneität von Hörerfahrnis und Schreibbewegung ist vermutlich auch der Grund dafür, dass meine poetischen Texte in den vergangnen Jahren immer länger geworden sind und dabei (hinsichtlich ihrer klanglichen, ihrer rhythmischen, ihrer strophischen Struktur) auch an Komplexität zugenommen haben. − Das aus vierhundert

 

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gereimten Versen komponierte Langgedicht "Ausgespielt" von 2015 ist ein Beispiel dafür.

 

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Für mich sind Träume eine unschätzbare, ja, unverzichtbare Bereicherung, aus der ich nicht zuletzt beim Schreiben … für das Schreiben immer wieder produktive Impulse beziehe, abgesehn davon, dass Traumzeit keineswegs nur verlorne Lebenszeit ist, sondern zugleich ein wundersamer, dabei ganz und gar realer Gewinn an Lebensraum, nicht euklidisch, versteht sich, aber als eine mögliche Welt mit eignem Wirklichkeitsstatus. Um so mehr war ich erstaunt, wenn nicht befremdet, als Oskar Pastior einst bei einem privaten Gespräch in seiner Berliner Wohnung auf einen Traumbericht (oder ein Traumgedicht?) von mir mit einem zornigen Ausbruch reagierte: Der Traum, das Träumen sei für ihn "das Letzte", er hasse Träume, und er verachte alle Kunst, vorab die des Surrealismus, die mit Träumen arbeite und daraus einen "völlig unkünstlerischen" Nutzen zu ziehn versuche. Pastiors Ausbruch war so heftig, dass ich damals annahm, er hasse Träume nicht nur, er fürchte sie auch. Ich stellte ihm keine Fragen dazu, vermied es konsequnt, von eignen Träumen zu

 

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reden, lenkte das Gespräch statt dessen auf den Film … auf einige zu jener Zeit aktuelle Kinofilme, doch Pastior warf sofort ein, er sehe sich ausschliesslich TV-Krimis an: TV-Krimis mit ihren rational konstruierten Plots und ihrem stets absehbaren Finale seien für ihn "das Gegengift" für seine Albträume. Und ganz unerwartet, um mir "zu zeigen, was das alles für ein Blödsinn ist", erzählte er, was er "eben mal wieder vergangene Nacht" geträumt habe: Er sei mit M. F. am See spazieren gewesen, habe einen flachen Kiesel aufgehoben, um ihn mit einem kräftigen Schwung übers Wasser springen zu lassen, aber nein … aber ja, zuvor habe er mit einem dicken schwarzen Filzschreiber ("oder war's ein Stück Kreide?") eine Botschaft auf den Kiesel gekritzelt ("wie bei einer Flaschenpost!"), nämlich diese: "Schlag, mein Herz, du bist nicht Stein." Also was? Nichts als Blödsinn?

 

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Zu seltsamsten Leseerfahrungen haben mir Texte von Paulhan, Caillois, Jankélévitch verholfen − Autoren, die ich sehr zu schätzen weiss, für die ich auch Sympathie aufbringen kann, deren Bücher ich mir immer wieder vornehme, ohne dass mich aber irgendetwas davon erreicht. Zwar kann ich mich für die Themen und Thesen durchaus interessieren, nichts aber anfangen damit. Seit Jahren, Jahrzehnten stehn die Werke bei mir im Regal, einige hab ich ganz, andre auszugsweise gelesen, nichts davon ist geblieben, keinerlei Erkenntnisgewinn, auch keine Irritation, bloss − pur − lange Weile mit (immer wieder) desolatem Schlussakkord: So what! Dies in eklatantem Unterschied zu Texten − zum Beispiel − von Artaud, Blanchot, Foucault, Derrida, die mich gleichermassen faszinieren, fordern, befremden, manchmal auch abstossen, nie nicht bereichern. Doch woran, genau, liegt's? Was macht den Unterschied? Wieso folge ich diesen bedenkenlos ins Ungewisse, akzeptiere Stuss und Dunkelheit ebenso, wie ich jähe Einsichten oder Aufhellungen dankbar festhalte, während jene mich durchweg kalt lassen und mir gleichgültig bleiben? Ob's doch vielleicht

 

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eine Stilfrage ist? Ob die Denk- und Schreibbewegung als solche, unabhängig vom Gemeinten, vom Dargelegten, die Rezeption bestimmt − das Verstehenkönnen ebenso wie das Verstehenwollen! Der passende Begriff dazu wäre wohl "Prägnanz".

 

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Im scheppernden Balg zwischen zwei Eisenbahnwaggons treffe ich auf einen Engländer mit Skibrille und kalter Pfeife im Gesicht. Der Mann fährt nach eignem Bekunden zu seiner einstigen Lateinlehrerin ("die erwartet mich oberhalb der heutigen Nebelgrenze"), will mich zum Mitkommen überreden. Ich würde ja gern und müsste eigentlich auch mal wieder eine heftige Nachhilfestunde absolvieren, nachdem ich gestern im 11. Buch der Aeneis nach einer bestimmten Stelle gesucht und dabei festgestellt habe, dass ich vom grossen Latein so gut wie nichts mehr verstehe, so gut wie alles verlernt habe. Irgendwo in den Bergen − eine Ortstafel kann ich nicht ausmachen − kommen wir an, es gibt hier aber nur Tankstellen und qualmende Industrieanlagen und das Pfeifen (von Murmeltieren) auf den ewigen Schnee; weit und breit kein lateinisches Kolleg, nicht eine Zeile von Vergil, aber der hiesige Gletscher hat schon wieder eine Leiche freigegeben. "Unübersetzbar ist übrigens", grummelt der Engländer, "nichts…"  −  "……………………………………………………………….…………………..………………… ………………………………………………………………………………………"  −  "…………… ……"  −  "………… ……………………………………………………………………………………………."                                             Ende

 

 

 

Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor, Publizist und Übersetzer in Romainmôtier (Schweizer Jura); zu seinen jüngsten Buchpublikationen gehören der Prosaband Die Blindgängerin (Ritterbooks 2018) sowie Das Treppengedicht (Moloko Print 2018) von Marina Zwetajewa in Neuübersetzung (mit dem faksimilierten Nachdruck der Erstausgabe von 1926).

 

 

In einer abweichenden, eigens formatierten elektronischen Fassung wurde die vorliegende Textfolge vorab bei www.planetlyrik.de für einen Monat ins Netz gestellt – mit täglichem Zuwachs um einen Blog. Hier erscheint sie nun als Erstdruck (nach Volltext, Wien 2018, H. 4).