Irina Prochorowas "Neue literarische Rundschau" sucht den liberalen Kurs zu halten
Seit fünfzehn Jahren erscheint in Moskau die "Neue literarische Rundschau", eine Zweimonatsschrift, die bis heute ihren hohen Standard als unabhängiges Organ der liberalen russischen Intelligenz hat halten können. Dabei ist sie zu einem zentralen Forum nicht nur der russischen, sondern auch der internationalen humanwissenschaftlichen Diskussion geworden.
Insgesamt 88 Ausgaben der "Neuen literarischen Rundschau" ("Novoe literaturnoe obozrenie") im Umfang von 450 bis 500 Seiten liegen bis heute vor – ein singuläres Kompendium in der Tradition der russischen "thick journals" mit ihrem charakteristischen Mix von Essayistik, Publizistik, Belletristik. Als Gründerin und Chefredaktorin zeichnet Irina Prochorowa verantwortlich; ihr stehen fünf Ressortleiter sowie ein global vernetztes Redaktionskollegium zur Seite. Die Zeitschrift, ein Produkt der mehr und mehr verdämmernden Epochenwende von Glasnost und Perestroika, versteht sich weiterhin als intellektuelle Speerspitze demokratischer Reformen und macht es sich zur Aufgabe, die kulturelle Umgestaltung Russlands voranzutreiben, neue ästhetische Perspektiven zu eröffnen und neue philosophische Horizonte aufzusuchen. Dies soll geschehen durch die Schaffung eines interdisziplinären Raums, "in dem humanwissenschaftliches und künstlerisches Denken, Text- und Bildwelten koexistieren und interagieren" sollen, um solcherart das russische Geistesleben offenzuhalten für theoretischen und methodischen Input aus dem euro-amerikanischen Westen.
Weit über die Literatur hinaus
Diesen Input gewinnt und vermittelt die "Neue literarische Rundschau" durch die permanente kritische Aneignung unterschiedlichster Denk- und Forschungsansätze, von Deleuze und de Man bis hin zu Agamben und iek. Dabei erweitert die "Rundschau" ihren Einzugsbereich weit über die Literatur hinaus auf das Gebiet der Philosophie, der Geschichtsschreibung, der Soziologie, der Kulturologie, der neuen Medien. So finden sich in den beiden jüngsten Ausgaben unter anderem Beiträge zum akademischen Marxismus der 1920er, 1930er Jahre, zur "Erfindung der Liebe" in Tagebüchern und Romanen, zur Emanzipationsgeschichte der lesbischen Literatur, zum Verhältnis zwischen westeuropäischer höfischer Kultur und Naturforschung im 17. Jahrhundert, zur konzeptualistischen Dichtung Dmitri Prigows oder zur Metaphorik des Lesens. Das wissenschaftliche Niveau der "Neuen literarischen Rundschau" wird inzwischen für so verlässlich gehalten, dass dort publizierte Originalbeiträge sowohl für ein russisches Doktorat wie auch für einen amerikanischen Ph. D. als Leistungsausweis anerkannt werden.
Auch wenn es durchaus andere geisteswissenschaftliche Zeitschriften geben mag, in denen vergleichbare Themen in vergleichbarer methodologischer Vielfalt abgehandelt werden, so ist wohl ausserhalb Russlands schwerlich ein Organ namhaft zu machen, das eine ähnliche historische Spannweite – von der Antike bis zur Gegenwart – und ein ähnlich ingeniöses Redaktionskonzept aufweist wie die "Neue literarische Rundschau". Studien und Materialien werden hier (jeweils mit englischer Zusammenfassung im Anhang) in fünf Rubriken präsentiert, nämlich Theorie, Geschichte, Praxis, Bibliografie und Chronik, und diese wiederum sind allesamt offen für die unterschiedlichsten Textsorten. Neben akademischen Abhandlungen und umfangreichen Literaturberichten finden sich Erstdrucke aus wissenschaftlichen und dichterischen Nachlässen, essayistische und belletristische Beiträge, Buch- und Zeitschriftenkritik, Berichte von internationalen Kongressen und Workshops, polemische und parodistische Texte, Aphorismen, Nekrologe und offene Briefe. Mit besonderer Sorgfalt werden bibliografische Recherchen gepflegt, die in manchen Fällen ebenso unterhaltsam sind wie riskante Theoriebildungen oder literarhistorische Spekulationen. Politisch inkorrekte beziehungsweise unerwünschte Themen wie Medienzensur, Rassismus, Neofaschismus, Antisemitismus werden meist nur mittelbar behandelt, sei es durch Historisierung (z. B. zaristische Zensur im 19. Jahrhundert), sei es in Form von Berichten über diesbezügliche Seminare oder Workshops, die oft an entlegenen Orten und somit unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.
Als Autoren rekrutiert Irina Prochorowa in erster Linie russische Publizisten, Kritiker, Universitätslehrer, Archivforscher, Schriftsteller der mittleren und jüngsten Generation, darunter auch solche, die im Ausland, vorab in den USA und im Nahen Osten, tätig sind – Namen wie Aleksandr Etkind, Igor Smirnow, Juri Sljoskin, Michail Jampolski, Ilja Kukulin, Irina Kaspe, Irina Paperno, Nikolai Bogomolow, Kirill Ospowat, Rebekka Frumkina und viele andere bilden eine intellektuelle, durchaus elitäre Gemeinschaft, der es nicht mehr auf Herkunft und Aufenthaltsort ankommt, sondern auf die Bildung einer wissenschaftlich-künstlerischen Internationale, die in sich höchst flexibel und für Aussenkontakte stets offen ist.
Ihren Erfolg als Herausgeberin der "Rundschau" hat Irina Prochorowa, die inzwischen zu einer Leitfigur und Lichtgestalt der postsowjetischen Intelligenz geworden ist (NZZ 15. 6. 02), für die Gründung eines eigenen geisteswissenschaftlichen und literarischen Verlags (NLO) genutzt, der bereits über eine reichhaltige Backlist verfügt, und sie hat ausserdem zwei weitere Zeitschriften lanciert, die eine als Forum für Debatten zur gegenwärtigen russischen Politik und Kultur ("Neprikosnovennyj zapas"), die andere – völlig neu für Russland – als Organ zur interdisziplinären Erforschung der Mode ("Teorija mody"), mit Schwergewicht auf Symbol- und Körpersprache, Design und Performanz.
Nischenexistenz
Irina Prochorowas Zeitschriften und ihr Verlag sind heute ein Refugium jener minderheitlichen kritischen Intelligenz Russlands, die sich der zunehmenden Verstaatlichung und Gleichschaltung der Medien, der Kultur- und Bildungsinstitutionen widersetzt. In einem ausführlichen Interview auf der Website www.newsru.co.il hat die Herausgeberin unlängst vor der Gefahr eines russischen Neofaschismus gewarnt, der zur "dominanten Religion der postsowjetischen Gesellschaft" geworden sei und "selbst von Angehörigen der Intelligenz freimütig gepredigt" werde.
Dass ihr erfolgreiches Medienunternehmen bisher von behördlichen Übergriffen unbehelligt geblieben ist, hat wohl einzig mit seiner überaus geringen Präsenz im öffentlichen Raum zu tun. Die "Neue literarische Rundschau" erscheint in einer Auflage von lediglich 2300 bis 2500 Exemplaren, von denen ein Grossteil für Bibliotheken, wissenschaftliche Institutionen und ausländische Abonnenten bestimmt ist. Obwohl die Zeitschrift auszugsweise auch im Internet veröffentlicht wird, bleibt ihr Leserkreis offenkundig zu gering, als dass sie – wie die russische Tagespresse und die elektronischen Medien – behördlich kontrolliert oder gar in ihrer Arbeit behindert werden müsste.
Die "Neue literarische Rundschau" ist ausserhalb Russlands zu beziehen bei http://kubon-sagner.de/
© Neue Zürcher Zeitung AG / 10. März 2008, Neue Zürcher Zeitung / Felix Philipp Ingold