Felix Philipp Ingold: LyrikText

Der russische Fürst Alexander Beloselski – eine vergessene Lichtgestalt

Die Galerie der bedeutenden Geister des Zeitalters der Aufklärung ist grösser, als die philosophiehistorischen Lehrbücher sie zumeist zeichnen. Ein Platz in ihr gebührt auch dem russischen Gelehrten und Diplomaten Alexander Beloselski.

Belosselsky-Belozersky A.MZur Zeit der Französischen Revolution galt er als einer der führenden Intellektuellen Europas – der russische Gelehrte und Diplomat Alexander Beloselski (1752–1809), der unter drei Zaren in hochrangigen Positionen gedient hat, als Kunst- und Musikexperte gefragt war und in persönlichem Kontakt (oder in Korrespondenz) stand mit Voltaire, Beaumarchais und Marmontel, mit Immanuel Kant, Melchior Grimm, Johann Wolfgang von Goethe und anderen mehr.

Katharina die Grosse, für die Beloselski zahlreiche Memoranden, Lageberichte und politische Analysen verfasste, hielt ihn angeblich für einen der «hervorragenden» Denker und Stilisten der Epoche, und der alte Voltaire belobigte ihn in einem Privatbrief dafür, dass er Französisch besser schreibe als die adligen Karrierediplomaten am Hof zu Versailles. Immanuel Kant, dem der Fürst einen seiner Traktate hatte zukommen lassen, wusste nach eigenem Bekunden «den Werth desselben zu schätzen».

Für seine Zeitgenossen war Beloselski, der als «Prince de Béloselsky» signierte, eine Lichtgestalt von internationaler Strahlkraft. Die vielfachen persönlichen Zeugnisse, die es über ihn und seine Tätigkeiten gibt, stimmen darin überein, dass er, der dem ältesten russischen Herrschergeschlecht entstammte, ein Mann von vollkommener Körpergestalt, vollkommener Bildung und vollkommenem Charakter gewesen sei, ein Mensch, dessen unmittelbar einnehmender Aura niemand sich habe entziehen können und der trotz seinem gigantischen Reichtum und seiner abgehobenen sozialen Stellung keinerlei Missgunst oder Gegnerschaft provoziert habe. Der Fürst, der über weitläufige Ländereien und diverse Stadtpalais verfügte, war zweimal verheiratet, hatte sieben Kinder, unter ihnen eine Tochter, die später als Sinaida Wolkonskaja mit literarischen Werken und musikalischen Kompositionen Bemerkenswertes zur Kunst der russischen Romantik beitrug.

Einen Grossteil seines Lebens verbrachte Alexander Beloselski im westlichen Ausland. Erzogen wurde er in London unter Aufsicht eines Onkels, der dort als Diplomat tätig war, und anschliessend in Berlin, wo er bei einem persönlichen Mitarbeiter des Preussenkönigs Privatunterricht erhielt. Danach absolvierte er bei einem russischen Eliteregiment eine mehrjährige militärische Ausbildung (Kavallerie), wurde dann aber, erst siebenundzwanzigjährig, im Rang eines Kammerjunkers als Gesandter nach Dresden geschickt, wo er ab 1779 bis 1789 in grossem Stil Hof hielt, Konzerte und Ausstellungen veranstaltete und mit dem Aufbau seiner nachmals berühmten Kunstsammlung begann. Kurz vor seiner Versetzung als bevollmächtigter Botschafter des Zarenreichs nach Wien empfing Beloselski den Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart, der sich als Klavier- und Orgelvirtuose in Dresden aufhielt, zu einem Hauskonzert und liess ihn mit dem Erfurter Pianisten Johann Wilhelm Hässler in solistische Konkurrenz treten. Hässler wie Mozart waren vom Fürsten derart eingenommen, dass sie gleich einen Aufenthalt in Russland planten; Mozart beschaffte sich vorab einen Reiseführer, verzichtete dann aber auf die lange Fahrt, derweil Hässler ab 1793 als Hofmusiker in Petersburg wirkte.

Mit Goethe traf sich Beloselski im Juli (oder September?) 1790 in Dresden. Anlass dazu war die «Epistel an die Franzosen» («Epître aux Français»), die der Fürst 1784 zusammen mit zwei weiteren Sendschreiben in Kassel veröffentlicht hatte. Im Weimarer und Jenaer Umkreis Goethes war man auf die «Epistel» aufmerksam geworden, in der Beloselski die französische Geisteskultur hochleben liess und beiläufig einen aufschlussreichen Überblick bot zur Frühgeschichte der russisch-französischen Wechselbeziehungen im 11. Jahrhundert. Nun sollte dieser Text in deutscher Übersetzung in der Jenaer «Allgemeinen Literaturzeitung» erscheinen, zu deren regelmässigen Autoren auch Goethe gehörte; womöglich war dies der praktische Anlass zu dem Gespräch in Dresden, von dessen Inhalt allerdings nichts Greifbares überliefert ist.
In Turin, wo er seit 1792 beim sardischen König akkreditiert war, wirkte Beloselski wiederum als Diplomat, verfasste zahlreiche geheime Depeschen zuhanden des russischen Aussendepartements, um über die Folgen der Revolution in Frankreich zu berichten; er tat es, aus royalistischer Sicht, kritisch und differenziert, vielleicht aber doch nicht kritisch genug, weshalb er von der Zarin zunehmend beargwöhnt, nie allerdings gerügt wurde. Dennoch gab der Fürst bereits im Folgejahr seinen letzten Botschafterposten auf und kehrte nach Russland zurück, wo er – teils in Petersburg, teils auf seinem luxuriösen Landsitz – in steter Nähe zum Zarenhof als angesehener Privatgelehrter, Kunstsammler und Mäzen den Rest seines Lebens verbrachte. Als er mit siebenundfünfzig Jahren starb, war er fünffacher Ordensträger und Mitglied von sechs europäischen Akademien.

Dass er auch tatsächlich ein loyaler Repräsentant der zaristischen Autokratie gewesen ist, darf man bezweifeln angesichts seiner versifizierten «Epistel an die Bewohner von San Marino», in der er die ständigen Intrigen und die repressive Etikette beklagt, durch die er als Adliger in seiner Freiheit massiv eingeschränkt werde; lieber würde er, fügt der Fürst hinzu, sein Leben in der uralten Stadtrepublik verbringen: «Mir sind unerträglich geworden der Könige Zorn und Zwiste / Wie auch der ewig hinterlistige Streit um die Steuern und / Die ewige Gesetzlosigkeit wie auch die Gesetze selbst: / Ich suche nach einem Land, das mich durch Glück für sich gewinnt . . .»

A. M. Belosselsky-Belozersky by KlengelPolitische und soziale Fragen haben Alexander Beloselski seit seiner Jugend beschäftigt und standen später aus beruflichen Gründen im Zentrum seiner Interessen. Davon zeugen seine diplomatischen Schriften, in denen er sich – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – mit aktuellen Problemen auseinandersetzt wie zum Beispiel der mehrfachen Aufteilung Polens zwischen Russland, Preussen und Österreich, der «Judenfrage» im russisch-polnischen Ansiedlungsrayon, dem Verhältnis Russlands zu Schweden, Dänemark oder dem Osmanischen Reich, der Sklaverei und Leibeigenschaft sowie Strukturproblemen von Industrie und Handel in Ostmitteleuropa. Da diese Papiere aber zu Lebzeiten des Fürsten (und bis heute) nicht im Druck erschienen sind, konnte er als sozial- und wirtschaftspolitischer Denker naturgemäss nicht wahrgenommen werden. Anhand seines publizierten Werks wurde er einerseits als Kulturpublizist und Musikkritiker qualifiziert («De la musique en Italie», Den Haag 1778; «Epistel an die Franzosen», Kassel 1784), anderseits – und vor allem Übrigen – machte er sich mit seinem in Dresden erschienenen Traktat zur Begründung einer allgemeinen Vernunft- und Verstehenslehre («Dianyologie ou Tableau philosophique de l'entendement», Dresden 1790) einen Namen als Erkenntnistheoretiker.

Alexander Beloselski, der als bekennender Anhänger Jean-Jacques Rousseaus «nicht eine intellektuelle, sondern eine sinnliche, vom Herzen kommende Philosophie» propagierte, bemühte sich in seinem Buch gleichwohl um eine streng rationale Darlegung seiner «Dianyologie» (von griechisch «dianoia», Denken) und scheute sich nicht, sie in Form von schematischen Zeichnungen zu visualisieren. Für Beloselski ist das Denken in all seinen unterschiedlichen Registern zwischen Idiotie und Genialität eine angeborene Gabe, die nicht beurteilt, schon gar nicht kritisiert, sondern einfach angenommen werden soll. Die Klassifizierung des Denkens nach «Sphären» erbringt also keine Werteskala, sie zeigt lediglich die Ausprägung und Reichweite menschlichen Denkens von der Begriffsstutzigkeit über die Nachdenklichkeit bis hin zur Vision und Erleuchtung.

In zahlreichen knappen Paragrafen entwirft der Autor sein Modell der geistigen Welterfassung, wobei Schritt für Schritt die Bedeutungsfacetten des zentralen Begriffs «entendement» – Verstehen, Verständigung, Verstand – aufgezeigt und im Einzelnen charakterisiert werden. Klar bleibt dabei, dass die Sphären – hier dargestellt als konzentrische Kreise – nicht hierarchisch gefügt und auch nicht rigide voneinander abgegrenzt sind, dass sie vielmehr ineinander übergehen und damit die wechselseitige Kommunikation der verschiedenen Denkregister ermöglichen: So wie der geniale Denker durchaus auch unbedarfte Gedanken hegen kann, mag der Tölpel hin und wieder einen genialischen Geistesblitz haben.

Immanuel Kant, dem der Fürst ein Widmungsexemplar seines Traktats hatte zukommen lassen, bedankte sich für «das schätzbare Geschenk» in einem Brief vom Sommer 1792 und teilte dem Autor mit, er fühle sich durch dessen Thesen «belehrt». In einem sehr viel umfangreicheren Entwurf zu diesem Dankesbrief rekapituliert und kommentiert der Königsberger Philosoph die Sphärenlehre Alexander Beloselskis (den er respektvoll als «Ew. Erlaucht» anspricht) mit viel Sympathie, aber auch mit unterschwelliger Skepsis, und diskret merkt er an, dass auch er, Kant, «seit einigen Jahren damit beschäftigt [sei], die Grenze des menschlichen spekulativen Wissens überhaupt auf das blosse Feld aller Gegenstände der Sinne einzuschränken». Von ihm, Beloselski, erfahre er nun aber, wie «für jedes Individuum die Grenzen der ihm angemessenen Sphäre zu unterscheiden» seien, und dies in einer überzeugenden Darbietung, «welche sich auf sicheren Prinzipien gründet und eben so neu und scharfsinnig als schön und einleuchtend ist».

Da Beloselski all seine Schriften – ausgenommen einige dichterische Versuche und der nachgelassene philosophische «Dialog zu Tod und Leben» (1794) – in französischer Sprache abfasste, blieb er in Russland als Philosoph eine unbekannte Grösse. Erst vor wenigen Jahren konnten die Originalwerke des Fürsten auswahlweise in russischer Übersetzung erscheinen, und allmählich wird er seither in die Geistesgeschichte Russlands integriert. Dass Alexander Beloselskis Familien- und Arbeitsarchiv zu grössten Teilen in den USA abgelegt ist (Houghton Library in Harvard, Bakhmeteff Archive in Columbia), geht auf die Revolution von 1917 zurück: Damals brachten die Nachkommen des Fürsten den umfangreichen Nachlass ausser Landes, um ihn vor der Enteignung oder gar Vernichtung durch die bolschewistische Kulturinquisition zu bewahren. Nun kehrt zumindest der «Geist» dieser gewichtigen Hinterlassenschaft nach Russland zurück.


Felix Philipp Ingold NZZ, 22. März 2014, 16:22

Alexander M. Beloselski in der russischsprachigen Wikipedia