Felix Philipp Ingold: LyrikText

1 Beobachtungen und Anmerkungen zur Poetik

Kaum je seit Menschengedenken wurde soviel Lyrik geschrieben, übersetzt, veröffentlicht, durch Stipendien gefördert, durch Preise abgesegnet wie heute; aber kaum je wurde so wenig Lyrik gelesen, im Klassenzimmer wie am Strand, von Kritikern wie von Buchhändlerinnen oder rüstigen Rentnern.

Dass das Geschäft mit der Lyrik gleichwohl floriert, ist durch eine Vielzahl von einschlägigen Zeitschriften, Almanachen, Anthologien und auch Einzelpublikationen belegt. Nachfrage und Angebot scheinen also ungefähr im Gleichgewicht zu sein, und es ist wohl davon auszugehn, dass die Gesamtheit der Gedichtleser mit der Gesamtheit der Gedichtschreiber nicht nur weitgehend übereinstimmt, sondern dass diese mit jenen mehr oder minder identisch sind. Wenn es im deutschen Sprachbereich auch bloß zehntausend Verfasser von Lyrik gibt (unter denen vielleicht drei-, vierhundert zur Druckreife gelangen) und jeder, jede von ihnen jährlich - sagen wir mal - drei, vier Gedichtbücher anschafft, müsste das, wirtschaftlich betrachtet und aufs Ganze gesehn, für das verlegerische Geschäft ausreichend sein.

Dafür, dass Gedichtschreiber und Gedichtleser gleichsam ein einzig Volk von Kollegen und Konkurrenten sind, spricht unter anderm die Tatsache, dass vorab Lyriker, Lyrikerinnen über Lyrik schreiben oder aber solche Kritiker, die nach eigenen lyrischen Schreiberfahrungen zur Germanistik übergegangen und schließlich Rezensenten geworden sind.

Bleiben wir bei den Autorinnen und Autoren. Deren Bedürfnis und Kompetenz, nebst poetischen auch poetologische Texte zu verfassen, hat in den vergangenen Jahren, namentlich unter den Dreißig-, Vierzigjährigen, eklatant zugenommen. Davon zeugen einschlägige Sammelwerke wie "Die Hölderlin Ameisen: Vom Finden und Erfinden der Poesie" (2005), "Wohin geht das Gedicht?" (2006) oder die Sonderausgabe von BELLA triste zur deutschsprachigen Gegenwartslyrik (XVII, 2007). Die Theorie kommt hier fast durchweg mit dem hohen Anspruch daher, gleichrangig neben der dichterischen Praxis zu bestehn. Man begibt sich, begrifflich hochgerüstet, in die vielstimmige Diskussion, trägt aber meist bloß monologisch dazu bei, verfährt recht eigenmächtig mit dem im weiten Feld zwischen Hamann, Valery, Derrida adaptierten Theoriegut und fällt dann doch, allzu oft, zurück in ein metaphorisches Räsonieren, das die Poetik tendenziell wieder in Poesie aufgehn lässt und den Erkenntnisgewinn auf einen mehr oder minder erhellenden Aha!-Effekt reduziert.

"Woher kommt das Gedicht?" fragt sich Ulrike Draesner; die Frage ist rein rhetorisch gemeint, sie funktioniert lediglich als Impulsgeber für eine bereits abrufbare Antwort, die in ihrer dezidierten Klarheit denkbar unklar bleibt und die sich, eben dadurch, jeder dialogischen Intervention entzieht. Denn - so liest man's nun - das Gedicht kommt "aus dem Körper. Aus dem Zufall. In Schleifen oder Loops. Aus einem Körpergefühl und somit auch aus einem Rhythmus." Klar - unklar - ist auch, wohin Gedichte gehn: "Gedichte gehen nirgends hin. Sie sind Handschuhe mit tausend Fingern, tausendundeinem Schlupfloch. Zeit geht darin in Schleifen, auf und ab, kreuz und quer." Unklar jedenfalls, in (oder an) wessen Hände solche Gedichte gehören, die außer 1000 Fingern auch noch 1001 Schlupfloch haben, was den Handschuh als poetologische Metapher vollends ad absurdum führt; klar indes, dass hier - eher hilflos - in Bildern gesprochen und damit jede Begrifflichkeit entmächtigt, jeder Einspruch verunmöglicht wird.

Man mag diese Art, über Dichtung zu reden, "originell", "toll", "kühn", "zeitgemäß", "spannend" o.ä. finden, doch ist daraus weder Aufschluss noch Einsicht in Bezug auf das Gedicht als solches zu gewinnen. Dass sich heute manche Dichter mit Vorliebe im Dunstkreis "origineller", wenn auch nicht immer "zeitgemäßer" Metaphernbildungen bewegen, wenn sie nach dem Woher und dem Wohin des Gedichts gefragt werden, sei mit ein paar weitern exemplarischen Zitaten belegt; etwa diesem: "Das Gedicht kommt über die sieben Berge, kommt als Kassiber, es hält über den Highway auf uns zu. […] Das Gedicht realisiert Realität, es nimmt sie wahr und verwirklicht gleichzeitig neue Wirklichkeiten: Hinter seinen Hügeln legen die Engel Eier in die Luft." So berichtet ein hoch dekorierter Lyriker der mittleren Generation, für den das Gedicht offenkundig etwas schon immer Gegebenes ist, das nicht nur eigendynamisch "auf uns zu" hält, sondern gar - Gipfel der Sprachmagie - Wirklichkeit verwirklicht. Da kann man sich bloß noch fragen: Wozu braucht's den Dichter, wenn doch das Gedicht allemal schon da ist, wie der Igel an der Wende der Ackerfurche?

Die poetischen Engel kehren wieder bei der Dichterin Brigitte Oleschinski und ersetzen unter deren Obhut das obsolet gewordne lyrische Ich ("ein einzelnes Hirn") durch ein plurales anonymes Subjekt ("eine Vielzahl von Stimmen") - eine poetologische Verrückung, die schon die klassische Moderne kannte und praktizierte, die nun aber buchstäblich auf die metaphorische Nadelspitze getrieben wird. "Nicht mal das simple Selbst ist ein Ein-Personen-Stück", wird uns energisch beigebracht; denn: "In der Vieldeutigkeit eines Gedichts drängen sich die Spalt- und Schattenkörper wie die sprichwörtlichen Engel auf der Nadelspitze." Ist aber damit das Gedicht beschrieben, seine Herkunft und sein Hingang geklärt, die Eigenart seiner Entstehung und seines Funktionierens erfasst?

Auch bei Lutz Seiler kommt das Gedicht noch vor dem Dichter zu Wort, auch hier ist es immer schon da als ein Ding unter Dingen, und indem es auf die Wirklichkeit "reagiert", realisiert es noch einmal, was dinghaft schon gegeben ist: "Das Gedicht wird angezogen von den Dingen, die von derselben Substanz sind wie es selbst." So, wörtlich, gibt Seiler uns zu lesen, was für ihn offenbar Fakt ist - das sprachliche Kunstwerk gehört nicht nur der gleichen, vielmehr "derselben Substanz" an wie die Dinge, die es in sich aufnimmt; und also: "Mein Gedicht reagiert hier auf Knöpfe und Krücken, es sucht in diesem Haus, das ich für drei Monate bewohne, nach den rohen, nicht musealisierten Resten einer Zeit, und mit diesen kann es sprechen. Und dann beginnt das Gedicht, mir den Anfang einer kleinen, einfachen Geschichte zu erzählen, damit ich mir etwas merke von den Dingen, die es hier gesehen hat."

So leicht geht dem Schwerstarbeiter unter den heutigen Dichtern, Franz Josef Czernin, die Poesie naturgemäß nicht von der Hand - dass er seinen Text lediglich irgendwo aufliest und ihn abfragt nach dem, was er zu "erzählen" hat, ist kaum vorstellbar. Gleichwohl scheint auch er das "Glück" zu kennen oder zumindest sich zu wünschen, dass das Gedicht vom Himmel falle, will heißen dass sich das reale Gedicht vom metaphorischen Himmel ablöse und dabei "sich und damit auch uns selbst im Augenblick des Sturzes erkennen lässt". Das Gedicht also doch auch hier als ein Medium der Erkenntnis dessen, was nicht Gedicht ist ("wir"), und darüber hinaus - der Erkenntnis seiner (des Gedichts!) selbst. Dieser Zusatz macht die Sache reichlich komplex, denn nicht nur soll das Gedicht bei seiner Ablösung (Abstraktion) vom Himmel sich selbst erkennen können, sondern weil dies so ist, mithin als Folge davon ermöglicht es "auch uns" die Erkenntnis unsrer selbst. Was die Sache zusätzlich kompliziert und im übrigen auch interessant macht, ist die Tatsache, dass in diesem Fall der Versuch unternommen wird, metaphorisch über Metaphorisches zu sprechen.

Auch bei Czernin darf das Gedicht in die Subjektstellung einrücken, und es wird somit, wie bei Seiler oder anderswo, zur Metapher für den Dichter, woraus hier naturgemäß nicht eine Frage, sondern ein Wunsch erwächst - das Ausrufezeichen macht's deutlich: "Wieviel Glück muss ein Gedicht oder sein Lesen haben" - so steht es, Wort für Wort, im Text - "um gerade jene Übertragungen zu finden, die himmelweit und ins Blaue reichen, die den Ähnlichkeiten und Unterschieden innerhalb der Sphären und zwischen ihnen und damit all den Gegenständen und Gegenwarten gerecht werden!"

Wäre dies tatsächlich das "Glück", nämlich dass das Gedicht wem oder was auch immer gerecht würde, ihm also nicht metaphorisch, vielmehr in Tat und Wahrheit entspräche, dann könnte Czernin leicht mit Seiler ins Gespräch kommen und, mit ihm übereinstimmend, sagen, "dass das Gedicht mit mir unterwegs ist, dass ich eine Ahnung davon besitze, mit welchen Situationen, Materialien und Substanzen es reagiert, was es wahrscheinlicher aufnimmt: für später". Als wäre das Gedicht "jemand", der umsichtig und wissend auf die sogenannte Wirklichkeit "anspricht", ein namenloses Subjekt, das den Dichter gleichsam bei der Hand, bei der Schreibhand nimmt bis hin zu dem Punkt, wo er durch seine Signatur das Gedicht (wiederum: gleichsam) für sich adoptiert.

Viele, die meisten Statements heutiger, hiesiger Dichter über Dichtung sind Versatzstücke einer Poetik des "Als-ob", beruhen auf außerliterarischen Vergleichen, bemühen Metaphern, meiden den Begriff, benennen Befindlichkeiten, Erwartungen, Wünsche und scheinen - demgegenüber - Handwerkliches gering zu schätzen. Auch die Sprache selbst findet gemeinhin nur marginales Interesse, sie scheint als etwas dem Dichter problemlos Gegebenes, ihm zur Verfügung Stehendes vorausgesetzt zu werden. Man verfährt mit ihr, man geht mit ihr um, spielt mit ihr, man nutzt und vernutzt sie gewöhnlich in dem Aggregatzustand, wie man sie vorfindet - als Alltagssprache, als Trendsprache, als Fachsprache, am wenigsten aber als Sprache, die sagt, statt bloß zu besagen.

Da kommen ein paar zufällig notierte Beispiele für diese Art, "gleichsam" über Poesie zu reden: "Ich mag Poesie, die spricht wie Menschen in einer Markthalle ... Zumutung und Durcheinander auf den Punkt gebracht. Als zöge da jemand am Stimmengewirr und bündelte es auf einen Ton, eine sirrende Ansage." - Wie sind Gedichte von Monika Rinck zu lesen, zu verstehn? Etwa so: "Sie [also wir Leserinnen] brauchen Vertrauen, ihr aufzusitzen, der Hautflüglerin, und mitzufliegen zu den Dingen, die sie sehr genau ansieht ... So, als wäre sie in der Lage, die Flimmerverschmelzungsfrequenz willkürlich ins Unendliche zu dehnen ... " - Oder die Lyrik eines Becker, Seiler, Reyer: "... als subjektive Erzählung einer strukturell aus den Fugen geratenen Welt, die das Gedicht und seine fragmentarischen Darstellungsmodi braucht, um uns nicht aus der Hand zu gleiten." Lyrik mithin als Erzählung, auf die die Welt angewiesen ist, damit sie (die Welt? die Erzählung?) uns nicht entgleitet! - Zu einem Gedicht von Norbert Lange: "Ökonomisch gewähltes Baumaterial. Die Rute [Route?] eines jeden Lauts lässt sich im Gesamtplan verfolgen. Nirgends die Spur jener quasi naturgesetzmäßigen Entwicklungsfähigkeit der Sprache, statt dessen letzte Rettungsmaßnahme, um sie vor dem Verbröckeln zu bewahren."

Schreiben, also, gegen Sprachzerfall, das Gedicht als Absage an ein verluderndes Reden. Doch warum, wozu sollte Poesie gegen etwas aufgeboten werden? Gegen etwas, das ohnehin nicht aufzuhalten ist? Nicht gegen die Sprachverluderung hat die Poesie einzustehn, sondern für das Gedicht - damit das Gedicht, trotz fortschreitendem Sprachzerfall, da sei.

Das Gedicht aufgefasst als protestantischer Widerstandsakt könnte, wie jeglicher Protestantismus, bloß ein Sekundärphänomen sein. Als ein solches aber wird es, unter wechselnden Gesichtspunkten, noch immer weithin geschätzt und eingesetzt. "Dichten könnte auch heißen", heißt es an einer Stelle in der Sonderausgabe von BELLA triste zur zeitgenössischen Lyrikdiskussion, "die aufblitzenden Gedankenbilder, die wechselnden Vorstellungen von Welt und Sprache, das sich wandelnde Gefühl von Leben, die Augenbilder, die sich im Gehirn schichten, überblenden und löschen, so in die Worte zu lassen, dass sich daraus ein Gebilde formt." Das Gedicht formt sich demnach, wie von selbst, aus lauter Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen u.ä.m. zu einem - wohlverstanden: sprachlichen - Gebilde, das wie ein Übersetzungsautomat Welt und Leben, eben, abbildet. Auffallend ist bei diesem "gleichsam" programmatischen Statement nicht zuletzt die Tatsache, dass selbst die Sprache nurmehr als eine "wechselnde Vorstellung" Geltung hat, und keineswegs als das, was das Gedicht vorab doch ist - Sprachgebilde und nicht bloß in Worte übertragnes "Augenbild".

Ein Beispiel - eins von vielen - für den poetischen wie auch den poetologischen Trend zum Als-ob und zu uneigentlichem Sprechen gibt die Dichterin, Übersetzerin, Publizistin, Herausgeberin und Jurorin Ilma Rakusa mit ihrem Eröffnungstext zum Sammelwerk "Die Hölderlin Ameisen". Der Beitrag besteht aus einem schmalen erotischen Gedicht ("zück mich"), einem Kommentar zu dessen Entstehung sowie einer Fotosequenz, durch die das Gedicht angeregt wurde. Auch hier bleibt das Gedicht auf die reaktive Funktion beschränkt, es bildet in Worten nach, was die Fotos zeigen und unzweideutig vermuten lassen. Die Autorin steht neben ihrem Bett, schaut versonnen auf ihr "schwarzes Dessous", das nach dem Liebemachen "achtlos auf dem Bettlaken" liegen geblieben ist. Das war, wie sie festhält, der "Anfang" des Gedichts. Nun bezieht sich dieses jedoch nicht auf das Stillleben im Liebesnest, wo sich das abgeworfne Unterzeug "in der Kuhle des Lakens räkelte", und es thematisiert auch nicht den vorgängigen Liebesakt oder wenigstens die Erinnerung daran. Nein. Die Szenerie wird fotografiert, und erst deren sekundäre bildhafte Vergegenwärtigung bietet nun Anlass zum Gedicht: "Streng sahen sie [die Fotos] mich an, aber mit latenter Sinnlichkeit. Ich ordnete sie zu einer Sequenz. Und plötzlich fingen die Vögel an zu pfeifen. Sie pfiffen munter zur Phantasie des Vögelns, auf diesem Laken, in diesem schwarzen Dessous."

Die latente Sinnlichkeit passt zur Phantasie des Vögelns, alles vollzieht sich "als-ob", es ist, als ob die Vögel das Vögeln nachträglich (und kraft der wundersamen Lautähnlichkeit) durch ihr Pfeifen beglaubigten. Und "wie der Zufall so spielt", kommt der Dichterin an diesem Punkt des Geschehens ein Gedicht Thomas Klings (sinnigerweise das "ornithologische zimmer") in den Sinn, und schon nimmt ihr eignes Schreiben seinen Lauf, offenkundig angeregt 1) durch die Fotos vom Liebeslager, 2) durch die Assoziation mit dem Klingschen Vogelzimmer. Aus dem so entstehenden Text sprechen in der Folge, gemäß dem beigefügten Kommentar, "die Aufforderung zum zückenden Zugriff sowie fröhlich stammelnde Verzückung". Aber alles abgeleitet nicht vom Präsens der Liebe, sondern von deren Repräsentation in Bild und Text. "In dieser Spannweite", so lässt die Autorin uns wissen, "kommt die Sinnlichkeit zur Besinnung." Und nochmals: "Da liegt das schwarze Dessous."

Worauf hat sich denn nun der Leser, die Leserin zu besinnen?

Vielleicht - da wir beim Vögeln, bei den Vögeln sind - auf jenen Essay von Marcel Beyer über Ornithologie und Dichtertum, der, zum Ende hin, ironisch zu bedenken gibt: "Wem beim Gedanken an Urschrei, Sphärenklänge, Rezitationen mit Gonguntermalung und das innere Kind schaudert, der mag Vogelkundler werden oder eben Gedichte lesen." Oder anders - im Ernst - gesagt: "Gedichte sind Forschung - auf einem anderen Gebiet als der Naturwissenschaft, mit anderen Mitteln, einem anderen Gegenstand natürlich, aber in der Bewegung ähnlich."

Neu ist das nicht; doch es regt dazu an, den Vergleich etwas weiter zu treiben. Ich tu's, mit Verlaub, in der Perspektive meiner eignen konfliktreichen Schreiberfahrung und mache also das Ich zum Subjekt der folgenden Sätze.

Ich habe lange Zeit als Sozial- und Kulturhistoriker gearbeitet, mehrere Bücher und zahlreiche Abhandlungen sind aus dieser Arbeit - Archiv, Forschung, Lehre - hervorgegangen. Dass ich, im Unterschied zum Ornithologen, kein Naturwissenschaftler bin, tut nichts zur Sache, denn auch als Vertreter einer "weichen" Disziplin muss ich meinen Forschungsgegenstand definieren, meine Forschungsmethode offenlegen, mein Forschungsziel benennen. Der daraus enstehende Text wird denn auch stets nach dem Forschungsergebnis abgefragt, auf das hin er verfasst wurde - eine völlig berechtigte, ja notwendige Frage; eine Frage, die sich bei einem dichterischen Text nicht stellen lässt.

Dichterische Texte haben, bringen, behaupten kein Ergebnis, sie sind's.

Mein Ungenügen an der wissenschaftlichen Prosa bestand - besteht - eben darin, dass der Akt des Schreibens in jedem Fall ein Akt des Nachvollzugs ist. Man schreibt nieder, was man erforscht und erkannt hat, man schreibt auf ein Fazit hin, das bereits klar ist. Als wissenschaftlicher Autor rekapituliere ich den Verlauf meines Erkenntnisgewinns wie auch dessen Ergebnis. Die Schreibarbeit als solche ist sekundärer Natur, die Sprache kommt ausschließlich als Bedeutungsträger zum Einsatz. Während im Gedicht, womöglich auch in der Erzählung der Akt des Schreibens selbst ein Erkenntnisakt ist, der zu keinem andern und keinem mindern Ergebnis führt, als dass nun der Text - wiederum: selbst - als Ergebnis schwarz auf weiß gegeben ist: das im Schreiben und durch das Schreiben sprachlich Erbrachte als Ergebnis; wenn auch nicht verifizierbar, vielleicht unverständlich, widersprüchlich, nicht übersetzbar in diskursive Rede, auch nicht in die Alltagssprache.

Dichterisches Schreiben ist für mich, nachdem ich mein sekundärliterarisches Soll übererfüllt habe, zum primären Schreiben geworden. Dichterisches Schreiben ist riskantes Schreiben, nicht absehbar in seiner Konsequenz, nie gänzlich kontrollierbar in seiner Eigenbewegung, nicht einzustellen oder auszurichten auf einen gewünschten Ertrag, oft auf keine bestimmte Bedeutung hin zu lesen, eine Schreibbewegung, die auch den Schreibenden selbst in Erstaunen, Verstörung, Enttäuschung versetzen kann. Und dichterisches Schreiben muss sich notwendigerweise in einem gewissen Grad von der Bedeutungsebene der Wörter emanzipieren, um einem Sinn (wozu auch Unsinn, Eigensinn gehören) zum Durchbruch zu verhelfen, der sich immer erst nachträglich entfalten kann, der aber auch, beim Lesen, jedesmal neu entfaltet werden muss. Wäre es anders, bräuchten wir Shakespeares Sonette oder die großen Poeme der Zwetajewa heute nicht mehr zu ergründen, nicht immer wieder neu zu übersetzen.


2 Beispiele und Kommentare zur Poesie

Ich will an dieser Stelle zurückkommen auf die deutschsprachige Gegenwartsdichtung und eine Leseerfahrung mitteilen, die ich mit so zahlreichen Texten mache, dass ich sie für symptomatisch halte. Ich glaube nämlich aus Gedichten unterschiedlichster Machart und Thematik einen gemeinsamen Kammerton herauszuhören, den Ton der intellektuellen Plauderei. Mehr und mehr scheint Lyrik aus Wissenschaftsmagazinen, Sachbüchern, Feuilletondebatten, TV-Talks oder Wikipedia-Artikeln generiert zu werden. Gedichte mutieren selbst dann, wenn sie alltagssprachlich daherkommen, zu jargonhaften Diskursen, die buchstäblich alles mit sich führen, was Neurowissenschaften, Halbleiterphysik, Prothetik, Informationstechnologie, Bionik u.a.m. an neuen Begriffen und Vorstellungen zu bieten haben.

Um solche Vorstellungen und Begriffe lyrisch zu inszenieren, braucht man sie nicht zu verstehn, ihre Übernahme ins Gedicht genügt, und in dessen Kontext verlieren sie ihre inhaltliche Relevanz ohnehin, weil sie lediglich als Reizwörter zur Generierung von beliebigen Assoziationen oder von bestimmten Lautentwicklungen eingesetzt werden. Rekurrent ist in diesem Zusammenhang die versatzstückartige Verwendung englischer Begriffe, Jargonismen oder Interjektionen - bei manchen Autoren scheint das Englische (eher zitathaft denn organisch) den deutschsprachigen Gedichttext zu beschleichen, ohne dass dafür eine wortkünstlerische Notwendigkeit erkennbar würde. Das Englische, genauer: das Angloamerikanische liefert hier die unverbindlichen Floskeln, die es braucht, um den intellektuellen Smalltalk aufrecht zu erhalten beziehungsweise ihn im Gedicht sich möglichst authentisch ausleben zu lassen. - Monika Rinck schreibt zu "NZL" einen tristforschen Plaudertext dieses Wortlauts:

nutten zur literatur. keiner lachte.
note to self: never make that joke again.
nein beige, das biest war beige und es trug frack.
es war eine mannshohe dogge und sie trug frack.
ganz eingedenk der natur, ihre tatzen lagen schulterhoch.
so etwas wie adornitische animation.


und das, so hörte ich jemanden sagen,
das sei tristesse. klingklong. der keeper guckt rüber.

er ist ganz dünn - wie ein winseln im grünen.
er nimmt beflissen unsre wünsche entgegen.

könnt ich dazu noch mal
das fahrige hörnchen tuten
hörn am tresen, du triste,
so gebrauchsmässig ditte
wie grade dreckseben.

break even.

draussen regen. wir garnen uns an.
auf das pflaster gefallene kelle.
mussensun: super MUTZ: die frau, das tier
ohne schwanz. da nich für. da nich für. denn
es wird, solang es menschen gibt, geschöpft.
und auch - damit.

Ich gestehe freimütig, dass mein Wissensstand wie mein Sprachgefühl nicht zum Verständnis dessen ausreicht, was eine "adornitische [adornotische?] animation" oder "mussensun: super MUTZ" sein beziehungsweise bedeuten sollten. Für das Verständnis des Gedichts insgesamt ist das auch gar nicht zwingend, denn als Leser fühle ich mich ohnehin nicht berufen, herauszufinden, was dahinter steht, ich gehe vielmehr von dem aus, was dasteht, und ausgehend von dem, was dasteht, versuche ich, einen - meinen - Sinn zu bilden, und der kann von dem, was die Autorin allenfalls gemeint hat oder hat sagen wollen, durchaus abweichen. Mein Problem ergibt sich denn auch nicht aus dem Nichtverstehn dessen, was gemeint ist, vielmehr daraus, dass ich nicht erkennen kann, weshalb (d.h. aus welcher poetischen Notwendigkeit) das Gesagte so gesagt oder eben hingeschrieben ist, wie es dasteht. Das ist keine Kritik an die Autorin, es ist eine Frage an sie.

Bei Ron Winkler, der sich den neuen lyrischen Plauderton ausnehmend souverän zueigen gemacht, ihm auch durchaus ein paar neue Reize abgewonnen hat, liest man in einem Naturgedicht (Landschaft mit Rehpopulation) die folgenden Zeilen, die er nach eignem Bekunden "rekonstruiert [hat] aus einer englischsprachigen Fassung". Da wird nun "in unserer synaptischen Lauge" eine Probe genommen, und "wir" erkennen, dass "ihre [der Lauge? der Rehe?] Holzaktivität diametral zu jener der Bäume verlief" und mithin eine Wirkung hatte wie das "Schrödingerflackern". Fazit des Experiments:

wir klassifizierten sie dann als Bündel sich verbessernder Triebe
mit variabler Bindung, sie kopulierten untereinander
und waren sich ausserdem orthographisch
sehr nah. ihre Evolution stiess an Grenzen: für uns
ein Vorteil. wir dekonstruierten sie von innen her und machten
uns auf den Heimweg, zu glätteren Dingen.


Die lyrische Synthetisierung disparaten Bildungsguts kommt auch in Winklers "Organischem Garten" wortmächtig zum Tragen:

hier streckten uns Situationen ihre Nominative entgegen.
Alleen bildeten beiläufige Bäume (Platanen).
der Rasen war Stillstand. wir
waren angetan, hintergrundunabhängig und offenbar
von mutmasslichen Bienen begleitetet
[sic] -

Paul Virilios weithin bekannte dromologische These vom "rasenden Stillstand" wird an dieser Stelle - ohne Verweis auf den Autor - assonantisch abgewandelt (oder fortentwickelt) mit Blick auf den Rasen, der als Wort wohl den erwünschten Lautbestand homophon zur Verfügung hält, nicht jedoch, auf der Bedeutungsebene, das Paradoxon der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren. Abgesehn davon läuft die dichterische Aneignung des Philosophenworts auf einen schlichten Pleonasmus hinaus, denn sehr viel mehr oder sehr viel andres als "Stillstand" kann der in der Regel geschorne Rasen wohl nicht darbieten. Mag sein, dass das pleonastische Sprechen hier ebenso gewollt ist wie die logische Widersprüchlichkeit, wonach "beiläufige Bäume" Alleen zu bilden vermögen, Straßenzüge also, die doch gemeinhin durch bewusste lineare Setzung eigens angelegt und keineswegs "beiläufig" bepflanzt werden.

Vermutlich hat Winkler an dieser Stelle das Wort "beiläufig" in seiner Doppelbedeutung von "nebenbei" o.ä. und "nebenher laufend" (also: "die Straße säumend") einsetzen wollen, jedoch nicht bedacht, dass die erste, üblichere Bedeutung von "beiläufig" der Vorstellung einer Allee zuwiderläuft. Ambivalenzen, Paradoxien u.ä.m. gehören zum Fundus poetischer Rhetorik, sie funktionieren im Gedicht jedoch nur dann, wenn sie in all ihren Bedeutungen Sinn machen, wozu selbstredend auch der gewollte Unsinn gehört. − Ein weiterer ungewollter, deshalb störender Widerspruch tut sich dort auf, wo von "mutmasslichen Bienen" die Rede ist, die das lyrische Wir "offenbar" begleiteten. - Wie etwas Offenbares zugleich ein Mutmaßliches sein kann, ist logisch kaum auszuweisen, darf in der Lyrik jedoch durchaus eine Option sein, dies aber auch wieder nur dann, wenn aus dem logischen Widerspruch ein lyrischer Mehrwert gewonnen wird.

Zu den sprachlichen Charakteristika der lyrischen Plauderei gehört die diffuse Verwendung des Ich, das nicht dialogisch auf ein Du anspricht, sondern sich mit diesem gemein macht in der unpersönlichen Form des Man oder im kumpelhaften Kollektiv eines Wir. Jeder soll sich angesprochen fühlen, jeder darf mitreden; so ähnlich wie beim Privatradio. Dem monologischen oder dialogischen (und überhaupt dem logischen) Sprechen wird die Polyphonie des neutralen Stimmengewirrs vorgezogen, wie es sich beim Tisch- oder beim Podiumsgespräch, in der Bahnhofs- oder Hotelhalle ergibt. Die Aufzeichnung derartiger Gesprächs- und Sprechsituationen scheint ein vorrangiges Interesse heutiger Poesie zu sein. Die Sprache (als solche) findet gemeinhin nur marginales Interesse, sie scheint als etwas dem Dichter problemlos Gegebenes, ihm zur Verfügung Stehendes vorausgesetzt zu werden. Man verfährt mit ihr, man geht mit ihr um, spielt mit ihr, nutzt und vernutzt sie; man packt sie gewöhnlich in dem Aggregatzustand, wie man sie vorfindet - als Alltagssprache, als Trendsprache, als Fachsprache, am wenigsten aber als Sprache, die sagt, statt bloß zu besagen.

Die von mir behelfsmäßig und − wohlverstanden − ohne jede negative Benotung als "intellektuelle Plauderlyrik" bezeichnete deutschsprachige Gegenwartsdichtung möchte ich an dieser Stelle meiner Beobachtungen und Überlegungen wie folgt auf den Punkt bringen: Diese Art von Lyrik bringt nicht Gedichte, sondern Texte in Form von Gedichten hervor.

Unterm Titel "(metallgeräusch)" bündelt etwa Stefan Schmitzer - alias "stefan schmitzer" - ein zwischen Umgangs- und Fachsprache fluktuierendes Stimmengewirr zu einer polyphon zusammengeschnittnen innern Rede, die unstet wabert zwischen Fragen, Behauptungen, Exklamationen, Vertraulichkeiten usf.

wie? ist euch die welt zu gläsern?
gibt es haarrisse an der oberfläche,
wenn ihr euch vorbeugt, um etwas zu berühren?

atmet ihr schneller als nötig? atmet ihr
überhaupt noch? so: klappe auf, ansaug
geräusch, klappe zu, druck im kapillarsystem,

dreck raus, sauerstoffatome rein? oh rotes,
glänzend rotes blut, oh tag, oh wunder
erscheinungen des verbreiteten raumes um uns -

sagt bloss, ihr kennt das nicht? morgens
und ausgreifenden schrittes über die glasflächen und
spielzeugfriedhöfe, venen aufm handrücken

abzählen, und hochschauen, bei der rückkehr,
als hättet ihr jederzeit was zerbrechen können,
sagt bloss, sowas träumt ihr nicht mehr?

gibt jedenfalls ein neues stück wissen
im büchlein der möglichkeiten, nämlich:
wie gehe ich

über metallgitterbrücken, ohne
gehört zu werden, abends, vom
wachdienst, ihr kennt

das geräusch.

Rotziges Daherreden, lautes Nachdenken und kumpelhafte Anrufe werden in diesem Gedicht auf überzeugende Weise zu jener intellektuellen Plauderintonation verschränkt, auf die so manche der jüngern Autoren (darunter auffallend viele promovierte Germanisten, Historiker, Philosophen) sich eingespielt haben. - Als ein weiteres Beispiel für diese Art der zugleich schnoddrigen und angestrengten Plauderrede, in der "ich" und "wer" und "wir" und "man" und "du" und "ihr" durcheinander murmeln, führe ich hier zumindest fragmentarisch ein Stück aus Ann Cottens "Fremdwörterbuchsonetten" an, mit dem Hinweis allerdings, dass für diese Autorin Sprache keineswegs bloß Bedeutungsträger ist, sondern auch - via vielfältige Klangassoziationen - als Sinngenerator eingesetzt wird. Bestimmend bleibt der intellektuelle Grundimpuls, der dann aber, wie bei manchen andern Autoren dieser Volee, alltagssprachlich verfremdet, ironisiert, gelegentlich ad aburdum geführt wird. "Ich", so heißt es programmatisch im Gedicht "Die Nematode mit dem Stilett", "mach Sonette über Oberflächen fremder Betten" - Sonette also nicht nur "über" (etwas), nein, "Sonette über Oberflächen". Es gehört, denke ich, zur Eigenart der intellektuellen Plauderlyrik, dass sie, aus einem staunenswerten Fundus von faktischem Wissen, stets "über" etwas dissertiert oder polemisiert oder wenigstens informiert, dabei aber, vor lauter Besagen, das Sagen der Sprache beziehungsweise das Hören auf sie vernachlässigt. In diesem Fall, bei Ann Cotten, gibt es zumindest den Versuch dazu, doch wenn dem Wort "Wurm" lediglich Klangkorrespondenzen wie "krumm", "dumm", "stumm" abgewonnen werden, wird dadurch weder ein neues Sehen noch ein Mehr an Erkenntnis geboten; Zitat:

..................................................Ja, einfach ists,

an Oberflächen phänotypisch sich zu illustrieren.
An Oberflächen palimpsestisch den Faden verlieren
und nur mehr Wurm sein. Stumm sein.
Klar, elegant und krumm sein.
Unmündig, weich und dumm sein,
um fernen Wissenschaftlern das Substrat zu zieren.

Sag, liebe Nematode, du, dein Ding da,
das du in die Gonaden der Kollegen steckst, ja,
man könnte es ja nennen dein Gemächt,
Träger eindeutiger Genetik, dein Geschlecht,
doch aufgreifend dich damals nannte ichs Stilett.

Manche Ingredienzien intellektueller Plauderlyrik finden sich - vorab auf thematischer Ebene - auch im jüngsten Gedichtbuch von Wolfram Malte Fues, der unterm Titel "Vorbehaltfläche" mehrheitlich lange, meist strophisch gegliederte Texte zusammenführt, in denen fach- und umgangssprachliche Stilelemente elegant amalgamiert werden. Der Verdichtungsgrad dieses Amalgams ist aber so hoch, dass jede Kolloquialität ausbleibt beziehungsweise vermieden wird. Vorherrschend ist in diesem Fall nicht der Plauderton, sondern das Rubato des intellektuellen Soliloquiums - meist ohne lyrisches Ich, selten ein Du evozierend oder adressierend, am seltensten sich gemein machend mit "uns", den Lesern, die "wir" denn auch nicht pronominal in die Gedichte einbezogen sind.

Statt in den Text involviert zu werden, werden wir mit ihm konfrontiert, Fues lässt ihn aus einer neutralen Mitte erwachsen, lässt offen, wer da spricht, macht aber deutlich, dass in seinen Gedichten eine durchweg überlegene Instanz, so jemand wie der gute alte allwissende Autor, monologisch auf ein Publikum hin spricht, bei dem er höchste Aufmerksamkeit voraussetzt, aber keinerlei Gegenfragen zulässt. Aus einer klar markierten Position der Stärke lehrt und belehrt er, er will, wiewohl nicht auf Einverständnis beharrend, verstanden werden. Im Unterschied zur gängigen intellektuellen Plauderlyrik bleibt Fues durchweg verbindlich, formuliert unzweideutig, nachvollziehbar, wenn auch stellenweise mit drangvoller Kompliziertheit. Ein Fragment hier als Beispiel:

Wenn der Mond mit dem Wort
das ihn wechselt, die Farbe
wechselt, geh'n sieben
silbenfingrige Schlussreihen blattwärts
im Sternanis auf.
Last
minute. Die Dächer
(Hohlziegel) haben
Algorithmen am Wind
Scheitsaiten, Samtspur in Seide, Platz
für sechs Schuhreih'n.

Wo Fues jedoch - bloß einmal im vorliegenden Band - das lyrische Ich mit dem Du des Lesenden zum Wir versöhnt, ist auch bei ihm der Plauderton nicht zu überhören; "wir" lesen:

Claro: Was ist
sei
ohne Anteil am Sein.
Wir brauchen, wie wir es sehen, nichts
was sich teilnehmen lässt
was sich mit uns vereinbart
über Teile und Ganzes, wir
wie wir uns sehen, kennen uns aus. Der Chronist
zündet die Tageslichtbirne an
über Acis und Daphne.

Zu fragen, zu untersuchen wäre, ob und inwieweit der allerseits erhobene, vielleicht doch nicht ganz so neue Plauderton auf die Stimmgabel (Stimmgabe) des Durs Grünbein zurückgeht. Grünbein, der anscheinend alle Bücher gelesen und alle Wissenschaften frequentiert hat, vermag ja tatsächlich aus Schädelbasen ebenso wie aus der Vita des Cartesius lyrische Lektionen zu ziehn und diese in großen strophischen Poemen (Oden, Rhapsodien, Konversationen u.ä.m.) zu entfalten. Obwohl er im Lauf der langen Jahre seines Schaffens vorzugsweise in kanonischen Vers- und Strophenformen gearbeitet und seiner Dichtung dadurch einen Anschein von klassischer Künstlichkeit gegeben hat, ist auch bei ihm - je mehr seine Schreibbewegung sich automatisierte und sich so zum Personalstil verfestigte - der Plauderton dominant geworden.

Grünbeins weiterhin zumeist gereimte Gedichte lassen zwar von ihrem Sound her noch immer sein großes Vorbild Joseph Brodsky (dessen Rhetorik, dessen historische und philosophische Thematik) anklingen, sind inzwischen aber zu einem Idiolekt geworden, der, obwohl in gebundener Rede abgefasst, dem neuen lyrischen Plauderton durchaus entsprechen kann. Auch hier - in dem Gedicht "Irrealis" zum Beispiel - sind "ich" und "du" und "er" (der Autor als außenstehende Instanz) in einen polyphonen Redefluss eingelassen:

"Wenn ich ein Vöglein wär" kannst du nun singen. Aber es wird,
Flügellos, wie du bist, nicht viel bringen. Wer wird schon erhört
Unterm Müll von morgen, von ewig-
Gestrigen Fliegen umschwirrt?
Lieber halt ich mich an die Wolken. An dein Lächeln, mon coeur.


[…]

Das Na und? macht die Runde, der Meineid ist klassischer Stil.
Es gibt keine Arbeit, doch der Schuhputzer gilt hier als Domestik.
Keine Tür wird aufgehalten, jedes Lächeln
Im Grandhotel wäre zuviel.
Der einzige Luxus sind Verse, aber Rilke liest sich wie Volapük.

En vogue ist das Zungenreden, der Zynismus beim Ärztekongress.
Jede Ära sucht sich die Zeitform, die zu ihr passt.
Noch und schon
Sind zwei Seiten desselben Irrealen.
Nur sie fallen früh aus dem Nest,
Die Dichter, diese ungebetenen Typen, Herolde der Konfusion.

So leichtzüngig wie Grünbein verfügt der Dichter Armin Senser noch nicht über die gängige lyrische Plauderintonation. Auch Senser ist ein vielseitig belesener und informierter Autor, auch er hat sich einst Brodsky (den deutschen? den englischen?) zum Vorbild genommen, konnte sich bisher aber, wie sein jüngstes Buch "Kalte Kriege" allzu deutlich belegt, nicht von ihm emanzipieren. Mag ja sein, dass er die Repression durch das Vorbild braucht und dass ihm dieses genügt, um am Fremdtext fortzuschreiben - statt die eigene Statur und Stimme durchzusetzen; Ghostwriter statt Autorhetor.

Noch immer lesen sich Sensers Gedichte zu guten Teilen wie Nachdichtungen von oder zu Brodsky, nicht nur die lyrische Intonation des Russen klingt nachhaltig, fast aufdringlich herüber, nicht nur manche Titel sind wörtlich oder doch fast wörtlich übernommen, die Anleihen gehen bis zu Details wie dem Hündchen von His Master's Voice oder dem Oval, das Brodsky oft als geometrische Metapher für das menschliche Gesicht beziehungsweise die Nullität des Menschen (O) einsetzt. Die Senserschen Gedichtanfänge wie auch die -schlüsse scheinen (wie) von Brodsky vorgegeben und als Incipit verwendet worden zu sein: "Ich schreibe diese Zeilen, Quintus, winters, bei Kerzenlicht ..." - "War das alles. Bleibt nur das Licht, das dich kennt." - "Ist doch die Zäsur nichts als die Zwischenzeit, | in der in uns alles nach Notwendigkeit schreit."

Senser, der weit selbstkritischer, auch sorgfältiger schreibt als Grünbein, hat keine ausgeprägte Neigung oder gar Affinität zu lyrischen Plaudereien; doch ein Hauch von Plauderei könnte seinen streng gefassten, durchweg diskursiv konzipierten Großgedichten vielleicht gut tun, sie um ein Intonationsregister bereichern. Denn allzu oft begnügt sich dieser Autor mit der lyrischen Kompilation von Lesefrüchten und vermischten Meldungen vom Tage, die in linearer Aufreihung seine kompakt gebauten Verse und Strophen realisieren. Seinen neuen Band eröffnet Senser, anspruchsvoll genug und wiederum unverkennbar a la Brodsky, mit einem Gedicht auf "Das 21. Jahrhundert". Wer unter den schreibenden Kollegen seiner Generation würde das noch wagen und wollen? Für das vergangene Jahr lautet der Rapport wie folgt:

2006 ist das Jahr der Wüsten.
Nicht zu verwüsten ist dagegen, dass Menschen dürsten.
In Deutschland sind im Januar minus 34 Grad.
Die Eishalle stürzt in Bad Reichenhall ein.
Natürlich ist das nicht. Eher natürlich: Verrat.
Etikettenschwindel wird härter bestraft.
Das Hütchenspiel ist statistisch gesehen schon gemein.
Ein Diktator stirbt in Untersuchungshaft.
Aufgebahrt im Museum der Revolution wird er zum Märtyrer gemacht.
Ein Schriftsteller gerät unter Antisemitismusverdacht.
Das Leben wird immer noch mit Erfahrungen angereichert, Uran
mit Kalten Kriegen. Im Iran
gibt's Entführungen. Kein Wunder.
Und die 47. Sure sagt: "Und wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann herunter
mit dem Haupt, bis ihr ein Gemetzel unter ihnen angerichtet habt ..."

Das ist kein Ausblick, schon gar keine Vision, es ist die lyrisch instrumentierte Aufzählung vereinzelter, wohl für typisch genommener Fakten, die man sich als Zeitungsleser notieren oder in Fischers Jahres-Almanach beschaffen kann. Außer der Darstellung dieser Fakten in Gedichtform kann als poetisch wohl nur die Assonanz von "Wüsten", "verwüsten", "dürsten" gelten sowie die mehrfache Wiederholung des Phonems "-ür-" (in "stürzt", "natürlich", "Märtyrer", "Entführung"), vielleicht noch der Gleichklang von "Iran" und "Uran"; aber die Lautähnlichkeiten entbehren der Spannung (und des Witzes ohnehin), weil sie ja bloß die Ähnlichkeit des jeweils Gemeinten bestätigen. Dies gilt im übrigen für manche der von Senser verwendeten Reime - denkt :: lenkt; wollen :: rollen; frei :: Schrei; schlecht :: Recht; oder auch (weniger regulär): Ritual :: brutal; Schicksal :: brutal; usf. - Den einen oder andern Text gibt's aber doch auch in Armin Sensers "Kalten Kriegen", in dem "wir" und "wer", "du" und "ich" vorkommen und das wohl eben deshalb am ehesten dem Plauderton sich annähert, den ich beim Mitlesen aktueller Poesie als deren Kammerton zu detektieren glaube. Hier ist Sensers "Canto" (3):

Unser Alltag, von Sachlichkeit ausgebessert,
geht in einen neuen, verbauten Sommer
von Strassensperren, einem Eisfach, Homer
und, wer war's noch? Jo Siffert!


Dauernd lese ich in den Hundstagen die Jahreszahlen
vom Zifferblatt. Und frage mich, was 0751 genau
geschah. Dann möchten
[sic] man der damaligen Qualen
gedenken. Aber dir wird gegenwärtig flau.


Inzwischen entsorge ich die Asche.
Und du holst mich ab. Wie viele
Jahre sind schon vergangen? Ich wasche
jetzt, weil es sich schon lange ausgezahlt hat, und schiele


auf die Uhr. Es ist 2008!
Was existentiell keinen Sinn macht.

Ein Sonett also; und womöglich zeigt die digitale Uhr ja lediglich 20.08h an. Was existenziell einer andern Sinnkategorie angehören würde.

Und noch ein Sonett, eins von mir, es ist vom Baujahr 1981. Damals hat die Kritik nicht mal bemerkt, dass es sich bei diesem Text um ein Sonett handelt, geschweige denn, dass da, formal streng gefasst, ein lyrischer Klang angeschlagen wurde, für den es das Gehör wohl erst heute - wieviele Jahre danach?! - gibt. Denn seinerzeit gaben in der deutschen Lyrik die großen K’s - Kaufs, Kernhardt, Krühmkorff, Kunert, Kunze, Sarah Kirsch oder Ulla Kahn - den guten Ton an. Dagegen und für diesmal zitiere ich nun, abschließend und beispielshalber (aus dem Band "Unzeit"), mein Fortschrittsgedicht aus dem Futurum exactum:

Als Betonkeiler schiesst an jedem
Ende ein "Wir sind!" empor,
mit tollem Pathos und in blödem
Einerlei nimmt das vereinte "Wir!", bevor

"Ich bin!" zum letztenmal das Sagen
hat, feist überhand und ist schon da
und hält die Luft besetzt. Zu fragen,
was "Ich bin!" dem "Wir sind!" noch an Da-


sein ist, ist weit gefehlt, solang
das Massenschwein, was schön und Frei-

heit sei, allein bestimmt. "Wir sind!" meint Hang
nach vorn, ist Stoss- und Saugwut, heisst dabei

auch "Bin!", doch ohne Personalpronomen.

"Sind wir?"
(Striktes Tierverbot.)
"NO MEN!"

 

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Dieser Essay erschien zuerst in Manuskripte, Nr. 177, 2007. Veröffentlichung im Perlentaucher mit freundlicher Genehmigung von Felix Philipp Ingold. Auch auf Lyriktexte.de mit Genehmigung des Autors.