Kehraus mit Celan
Eine revisionistische Lektüre
Zu den nachhaltigsten Quellen meiner literarischen Schreibarbeit gehört ein schmales Lyrikheft von Paul Celan, das 1962, schlicht betitelt mit «Gedichte», als Schulausgabe herauskam. Die kleine Anthologie diente mir nicht nur als Einführung in Celans Frühwerk, sie begründete auch mein Interesse an seiner späteren Dichtung, der ich schon bald die Übersetzungen (aus dem Französischen, dem Russischen) als gleichrangige Texte zurechnete. Aus seiner Originallyrik wie aus seinen Nachdichtungen bezog ich vielerlei Impulse für eigene diesbezügliche Versuche, und ebenso stark beeindruckten mich seine Grundsatzerklärungen zur Poetik wie zur Sprache allgemein, vorab «Der Meridian», das «Gespräch im Gebirg», dazu die vielen sprach- und dichtungstheoretischen Verlautbarungen in seinen privaten Korrespondenzen.
Allmählich erschloss ich mir (erschloss sich mir) Celans Gesamtwerk als ein einheitliches Ensemble, an dem ausser Lyrik und Prosa auch die Übersetzungen und die zahlreichen Briefe integralen Anteil haben – alles ist hier Dichtung, alles wirkt gleichermassen hochkarätig, dabei bleibt alles «ungemein», jeder Satz, jeder Vers irgendwie befremdlich und irgendwie interessant; vieles ist schwerverständlich, missverständlich, unverständlich, also kommentarbedürftig.
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Jegliche Art von Hermetismus weckt Neugier, provoziert die Lust am Entziffern, kann zu interpretativem Wahn oder Furor führen. Wie Rainer Maria Rilke und Franz Kafka ist auch Paul Celan zum Gegenstand nicht enden wollender Auslegung geworden – die einschlägige Sekundärliteratur übertrifft sein Werk umfangmässig um ein Vielfaches, und mehr als dies, sie umgibt es mit einer Aura der Abgehobenheit und Unantastbarkeit: Es ist, als betreibe ein internationales Syndikat von Schriftgelehrten konsequent die Sakralisierung des Autors und seiner Texte.
Jedes Wort, jeder Buchstabe, jedes Interpunktionszeichen, aber auch jede dokumentierte Lebensregung Celans kann Anlass zu ingeniöser Exegese werden, derweil kritische Annäherungen und Vorbehalte seltenste Ausnahme bleiben. Eben dies ist der Grund dafür, dass Celan schon zu Lebzeiten höchst erfolgreich war und nach seinem Tod sehr rasch in den Kanon aufgenommen wurde. Nicht in erster Linie die Qualität seiner Texte, vielmehr die Quantität der Kommentare war die Grundlage dafür: Der Nachruhm ist ein Produkt der Nachrede; die permanente (permanent positive) Besprechung des Werks sichert dessen bleibende Präsenz weit eher als das Werk an sich.
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Längst hat Paul Celans Sakralisierung deutliche Züge von Vergötzung angenommen. Als Opfer antisemitischer Verfolgung und Vertreibung, als Opfer einer furiosen Plagiatskampagne, als Opfer des unzureichend entnazifizierten deutschen Literaturbetriebs, als Opfer geistiger Verwirrung, schliesslich als suizidales Opfer seiner selbst ist der Dichter zu einem unangreifbaren Idol geworden, sein Leben – ein einziger Martyrolog, das Werk – ein einzigartiges, mit Bedacht verschlüsseltes Zeugnis seiner Klage und Anklage.
«Düsterstes im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sie her, kann sie [die Dichtung], bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint», notierte Celan für eine Umfrage der Pariser Librairie Flinker im Jahr 1958; und weiter: «Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem ‚Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein.»
Zweierlei wird hier klargestellt: Erstens bekennt sich Celan zur literarischen Überlieferung, macht aber deutlich, dass Dichtung nicht auf die Erfüllung entsprechender Erwartungen angelegt ist, sondern auf die Erneuerung und Erweiterung der dichterischen Rede; zweitens plädiert er für eine Sprachkunst, die zu Gunsten der Wahrheit die Schönheit zurückstellt, also der Kunstfertigkeit die Faktographie vorzieht, «eine ‚grauere‘ Sprache», wie er hinzufügt, «eine Sprache, die unter anderem auch ihre ‚Musikalität‘ an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ‚Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte.»
Dieses dezidierte, programmatisch anmutende Selbstzeugnis steht bezüglich der «wahren» Dichtersprache in auffallendem Widerspruch zu allem, was Celan zuvor und danach an Lyrik bewerkstelligt hat. «Todesfuge», sein bekanntestes Dichtwerk, ist beispielhaft dafür, dass und wie «Düsterstes», «Furchtbarstes» mit lyrischem «Wohlklang» vorgetragen werden kann – ein Meisterstück rhythmischer Gestaltung und klanglicher Organisation.
Doch mehrheitlich ist Celans Lyrik, die keineswegs nur aus Meisterstücken besteht, in dieser Hinsicht allzu üppig und angestrengt instrumentiert. Die vom Autor geforderte «nüchterne», «grauere» Sprache, die den «wahren» Ausdruck erbringen soll, wird in seinen Texten durchwegs ins Polychrome und Euphonische überhöht, wird höchst eindringlich zum Klingen und metaphorisch kühn zur Anschauung gebracht, selbst dort noch, wo sie zu verstummen droht.
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Für mein Rückkommen auf Paul Celan wähle ich einen ungewöhnlichen, bisher vernachlässigten Zugang – seinen umfangreichen literarischen Nachlass, der in zwei kommentierten Editionen vorliegt (1997; 2003). Qualitativ wie quantitativ steht das Konvolut dieser Hinterlassenschaft kaum hinter dem zu Lebzeiten des Autors publizierten Werk zurück. Denn bei den knapp 500 unveröffentlichten Gedichten handelt es sich nicht um misslungene oder fragmentarische, sondern um voll ausformulierte Texte, welche die weithin bekannten Lyrikbücher – von «Mohn und Gedächtnis» (1948/1952) bis «Lichtzwang» (1970) – gleichwertig ergänzen und deshalb ohne irgendwelche Einschränkungen als Teil des Gesamtwerks zu betrachten sind. Celan hat diese Gedichte (im Unterschied zu verlorenen, vergessenen oder bewusst vernichteten Texten) sorgsam datiert und aufbewahrt, wodurch ihre Gültigkeit auch durch ihn selbst bezeugt ist.
Vorab stellt sich bei Celan die allgemeine Frage der «Dunkelheit», mithin das Problem der bewusst eingeschränkten Verständlichkeit dichterischer Rede. Jedes seiner Gedichte, auch das leichter zugängliche Frühwerk ist von solcher Dunkelheit zumindest partiell verschattet. Der Celan’sche Hermetismus ist denn auch in der Sekundärliteratur ad libitum abgehandelt worden.
Ich selbst stütze mich bei meinen diesbezüglichen Überlegungen vorzugsweise auf den Autor, der dazu in seiner Dankesrede für den Büchnerpreis («Der Meriridian», 1960) alles Wesentliche verlautbart hat. Unverständlichkeit durchzusetzen, wird bei ihm zum Prinzip dichterischer Rede überhaupt. In paradoxaler Argumentation legt er dies in einem geschlossenen rhetorischen Zirkel mit grosser, geradezu existenzieller Dringlichkeit dar.
Dichterische Rede bewährt sich in der Verweigerung offener Kommunikation zu Gunsten einer «grauen», aus dem Stottern und Brabbeln erwachsenden Verssprache, die als beredtes Schweigen zu begreifen, bedeutungsmässig jedoch kaum zu verstehen ist. Diese urtümliche Dichtersprache ist gleichermassen primitiv und artifiziell, schwankend zwischen kleinlautem Raunen und auftrumpfendem Pathos. «Vielleicht ist das Gedicht von da her es selbst... «, mutmaßt Paul Celan, «und kann nun, auf diese kunstlose, kunstfreie Weise, seine anderen Wege, also auch die Wege der Kunst gehen – wieder und wieder gehen? – Vielleicht.» Und mit mehr Gewissheit: « – das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen.»
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«… geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.» So lautet ein weiterer Kernsatz in Celans Preisrede, der auch als Kernsatz seiner Poetik gelten kann. Dichtung, so aufgefasst, wird als Gang in die freiwillige Gefangenschaft praktiziert, in die Konfrontation des Dichters mit sich selbst, in ein Abseits von jeglicher Norm und Konvention – allein auf diesem Weg ist Freiheit zu gewinnen, Freiheit von und für sich selbst. Dieser radikalen Einzelgängerei zum Trotz postuliert Celan das Gedicht als Gesprächsangebot an einen jeweils Andern, verleiht ihm damit eine dialogische Dimension, in der Frage und Anruf jeder bündigen Antwort vorgeordnet sind oder gar selbst zu einer impliziten Antwort mutieren können: «Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.»
Doch der Dialog bleibt ungenutzt, und tatsächlich kann der Leser, die Leserin gegenüber dem Gedicht wie dem Dichter kein Gesprächspartner sein, denn wer liest, mag sich zwar angesprochen fühlen, ist aber nicht wirklich in ein Gespräch eingebunden und kann auf den Anruf oder die Anfrage des Autors nicht direkt reagieren. Nicht anders als der Schreibende ist auch der Lesende auf die «allereigenste Enge» verwiesen und hat sich darin zu behaupten, indem er sich aus ihr befreit.
Dass sich Celan der Unhaltbarkeit dieser Gesprächssituation bewusst war, gibt er seinerseits zu erkennen, indem er den angeblichen Dialog als verkappten Monolog ausweist, das Gedicht als einen «Umweg von mir zu mir»; dazu erläutert er: «Dann wäre das Gedicht – deutlicher noch als bisher – gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen, – und seinem innersten Wesen nach Gegenwart und Präsenz.» Woraus folgt: «Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben.»
Es bleibt lediglich der Glaube (oder wenigstens die Hoffnung), dass die Unmöglichkeit des Gedichts als Gesprächsort nicht die Möglichkeit einer «Begegnung» mit ihm ausschliesst, genauer nun: einer Begegnung, die einzig «im Geheimnis» stattfinden kann, weil sie selbst ein Geheimnis ist. «Vielleicht», so heisst es weiter in Celans Redetext, « – vielleicht geht die Dichtung, wie die Kunst, mit einem selbstvergessenen Ich zu jenem Unheimlichen und Fremden, und setzt sich – doch wo? doch an welchem Ort? doch womit? doch als was? – wieder frei?» Die Fragen müssen als Antwort genügen; denn: „Wir / wissen ja nicht, weißt du, / wir / wissen ja nicht, / was / gilt.“ Die letzten Zeilen aus dem Gedicht „Zürich, Zum Storchen“ (1960) sind skeptische Bestätigung dafür.
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Um die vielberufene «Dunkelheit» seiner lyrischen Sprache zu rechtfertigen, zitierte Celan in der Büchnerrede auf Französisch einen diesbezüglichen Verweis von Blaise Pascal:
«Werft uns nicht den Mangel an Klarheit vor, denn wir bekennen uns dazu.» Und er fügte hinzu: «Das ist, glaube ich, wenn nicht die congénitale, so doch wohl die der Dichtung um einer Begegnung willen aus einer – vielleicht selbstentworfenen – Ferne oder Fremde zugeordnete Dunkelheit.»
Dunkelheit im Gedicht wird erreicht durch Verdunkelung seiner Aussageebene, heisst auch – durch die absichtliche Störung seiner Kommunikations- und Bedeutungsfunktion, letztlich also durch die Erschwerung, wenn nicht Verhinderung des Verstehens. Statt Eindeutigkeit wird Vieldeutigkeit angestrebt, statt Klarheit – das Ungefähre, Unberechenbare, Uneinsichtige; das Geheimnis gilt mehr als die Gewissheit, der Nonsense mehr als logische Kohärenz. In der diplomatischen oder militärischen Praxis dient Verdunkelung dem Transfer geheimer Nachrichten, in der Poesie (wie in der Magie) – der Erzeugung von Stimmungen und Ahnungen, die höhere, rational nicht fassbare «Wahrheiten» eröffnen sollen, «Wahrheiten», die nur in Andeutungen, Anspielungen, Vergleichen, Metaphern evoziert werden können, nicht aber in Begriffen festzuhalten sind. Solch vage «Wahrheiten» ermöglichen naturgemäss eine Vielzahl von Auslegungen, sie fordern hermeneutischen Scharfsinn und interpretative Spekulation gleichermassen heraus. Von daher der Reichtum, die Vielfalt aller Celan-Exegese.
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Als ein erstes Beispiel für Celans Verdunkelungs- und Verfremdungstechnik rücke ich an dieser Stelle das vom Januar 1968 datierte Gedicht «Zrtsch» ein:
Zahniger Zorn,
ich zätsche,
zundere,
zaibe.
Es ännt
hinterm Hirn, es gegittert.
E-e-g! E-e-g!
Ich haare, ich härsche.
Öötschst. Heringst.
Paul Celan hat diesen Text am Tag seiner Entstehung brieflich an Franz Wurm übermittelt, mit der Anmerkung: «Das Bösere ist des Guten Freund.» Ob das als Kommentar oder als Erklärung zum Gedicht zu lesen ist, bleibt offen; offen auch, weshalb Celan den Text nie in Druck gegeben hat, weder als Einzelpublikation noch als Teil eines seiner späteren Buchwerke. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass er das Gedicht als persönliches Gesprächsangebot an den Freund adressiert hat und dass er es – in Übereinstimmung mit seiner dialogischen Poetik – im Privatbereich (in «allereigenster Enge») belassen wollte.
Dunkel, wenn nicht gar befremdlich und abweisend ist gleich schon der Titel des Gedichts: «Zrtsch» kann im Deutschen weder als Wort noch als Name gelten, da es keinen silbenbildenden Selbstlaut aufweist, wie es bei «ratsch» oder «rutsch» der Fall wäre. Ich halte «zrtzsch» für ein willkürlich gesetztes, vielleicht aber auch spielerisch gewähltes Kennwort und vermute dessen Herleitung aus dem Tschechischen (was sich linguistisch leicht erklären liesse). Mag sein, ja, es ist anzunehmen, dass Celan und sein Korrespondent eine bestimmte Vorstellung oder Bedeutung damit verbunden haben, doch
für deutschsprachige Leser ist das ohne Belang, für sie – für uns – ist «zrtsch» eine unaussprechliche bedeutungsleere Buchstabenfolge, die als solche die Dunkelheit des Gedichts annonciert und beglaubigt.
«Zrtsch» liefert im Übrigen für die gesamte erste Strophe den selben dentalen Anlaut – «zahniger Zorn» sowie die neuartigen, dabei archaisch wirkenden Tätigkeitswörter «zätschen», «zundern», «zaiben». Ungewöhnlich – oder eben dunkel – sind (in der folgenden Strophe) auch die Verbformen «es ännt» und «es gegittert», Wörter und Formen, die es im Deutschen so nicht gibt, die jedoch andrerseits wie Überschreibungen bekannter Wendungen zu lesen sind: «es brennt» (für «ännt»), «es gewittert» (für «gegittert»); ebenso im vorletzten Vers, wo «ich haare» für «ich harre» und «ich härsche» für «ich herrsche» stehen könnte.
Auch die unverständliche Verbform «heringst» in der Schlusszeile liesse sich durch den Austausch eines einzigen Buchstabens normalisieren («geringst», Steigerungsform zu «gering»), doch dem Verständnis dieser Stelle und des Gedichts insgesamt wird damit nicht nachgeholfen. Ebenso verhält es sich bei dem doppelten, ganz und gar unverständlichen Imperativ «E-e-g! E-e-g!», der umgekehrt zur Leserichtung als «Geh! Geh!», lautähnlich allenfalls als «Weg! Weg!» gedeutet werden könnte – die offenkundige (offenkundig gewollte) Dunkelheit dieser Strophen ist selbst durch solch behelfsmässige Formanalysen nicht aufzuhellen. Und vollkommenes Dunkel tritt ein, wenn am Gedichtende ein anonymes Du (zweite Person Einzahl) gleichsam angequatscht wird mit «öötschst», was durchaus auf Hohn oder Verachtung schliessen lassen könnte, aber – vom Autor gewollt – jeglichem rationalen Verstehen entzogen bleibt.
Der hier vorliegende, hermetisch verrätselte Text dürfte auf manche Leser abschreckend oder auch provokant wirken, seine konsequente Aussageverweigerung täuscht dennoch nicht über seinen Kunstcharakter hinweg. Jeder Vers – wie das Gedicht als Ganzes –kommt in poetischer Hochrüstung daher, doch die formale Überanstrengung mit den allzu vielen Stabreimen und Assonanzen lässt um so deutlicher das Defizit an Mitteilung erkennen: So viel künstlerischer Aufwand bei vollkommener Bedeutungsleere. Andrerseits ist Bedeutungsleere kein Hindernis, eher sogar ein Antrieb für eigenständige Sinnbildung auf Seiten der Leserinnen und Leser. Womöglich ist es gerade dies, was Celan von seinen imaginären Gesprächspartnern erwartet – dass sie das Gedicht, so wie’s dasteht, in seiner Opazität akzeptieren, etwas Eigenes damit anfangen, statt es bloss als Fremdtext zu hinterfragen und auszudeuten, um zu ergründen, was der Autor hat «sagen» wollen.
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Was der Autor hat «sagen» wollen, möchte man allerdings ganz gern dort erfahren, wo er das Gedicht bei vorherrschender Dunkelheit – zumindest der Intonation nach – auf eine gewisse Stimmung festlegt. Dass Celan ausser der pathetischen (wenn nicht prophetischen) Rede oft auch die der Polemik praktizierte, ist durch manche seiner Privatbriefe belegt, wird aber auch von Zeitgenossen bestätigt, die entsprechende mündliche Äusserungen von ihm überliefern – offenbar tendierte er dazu, politisch oder literarisch Andersdenkende als bedrohliche Widersacher zu qualifizieren und sie mit Wut und Verachtung abzustrafen. Wie souverän er dies auch in verdunkelter Dichterrede zum Ausdruck brachte, zeigen beispielshalber die nachfolgenden titellosen Strophen vom Sommer 1968.
Sie haben dich alle gelesen, jetzt tinten
sie dran,
jetzt schröpfen sie ihr
Feme-Pardon, bei Neonruch,
und zerstäubens:
das nennen sie Welt,
davon galgts in den Happening-Harfen,
Schaufenster munkeln,
Zufälle kunkeln –
welch ein Reim, gassatim,
jetzt kann der Reimlose hoch
hinaufstehn
in sich.
Alles und nichts
füllt nichts und alles,
draussen, inmitten,
verlässt der Herr seine Leere, erkenns.
Niemand wird hier explizit als Kontrahent genannt, kein Vorwurf wird konkretisiert, kein zeitgeschichtlicher oder thematischer Kontext angedeutet – alles bleibt in rhetorischer Schwebe, und doch lässt die Lektüre des Gedichts unabweisbar den forcierten Ton einer kompromisslosen Abrechnung aufkommen.
Mit viel poetischem Aufwand entlarvt Celan in diesen Versen eine ihm verhasste Gegnerschaft, und zugleich verschleiert er sie. «Sie» – dritte Person Mehrzahl – steht für ein anonymes Man, das von einem ebenfalls anonymen Du (das hier das lyrische Ich vertritt) einer erbarmungslosen kollektiven Anklage ausgesetzt wird. Doch auch der Gegenstand dieser Anklage bleibt ungenannt, wird lediglich in vager Umschreibung angedeutet. Gleich in der Eingangsstrophe ist von «schröpfen» und «zerstäuben» die Rede, von «Feme-Pardon» und «Neonruch» – lauter Begriffe mit negativer Konnotation, nicht anders als das kuriose Verb «tinten», das wohl einfach «schreiben» bedeuten soll, in diesem Fall als bösartiges Vergiessen von Tinte, d.h. als Verleumdung oder als Attacke aufzufassen: Alle haben «Dich» (also mich, Celan) «gelesen», und alle verunglimpfen «Dich» nun für das, was «Du» geschrieben hast.
Die nachfolgenden Verse bestätigen Celans lyrische Aggressivität, halten sie aber weiterhin bedeckt durch befremdliche Wortwahl (wie «galgts», zu «Galgen») und poetischen Zierat, vorzugsweise bewerkstelligt durch Stab- und Binnenreime: «Happening-Harfen», «verlässt der Herr seine Leere», «Schaufenster munkeln, | Zufälle kunkeln», oder auch eine unbedarfte Formel wie «alles und nichts | füllt nichts und alles».
Das mag dichterisch intendiert sein, starke Dichtung ist es nicht.
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Dies gilt gleichermassen für einen andern, zur selben Zeit entstandenen quasipolemischen Text, der mit gefälligen Assonanzen aufwartet («unbotmässig | der Bote», «buhlen die Scheinbullen», «-schränkt, | grenzt»), um vordergründige, jedoch verschwiegene oder verdrängte Fakten hintergründig aufscheinen zu lassen:
Komm ich dir hinter die Schliche?
Du fabelst.
Obligat
ist die Freiheit,
unbotmässig
der Bote,
buhlen die Scheinbullen,
scharen sich die
Aufständisch-Hymnischen,
entschränkt,
grenzt der Gesinnte.
Ein einziger, definitorisch formulierter Aussagesatz («Obligat | ist die Freiheit») ist dem sonst kaum verständlichen Gedicht zu entnehmen, doch auch dieser Satz bleibt, da ein stützender Kontext fehlt, eher unbestimmt und provoziert zur Frage, in welchem Sinn und zu welchem Zweck und für wen denn überhaupt «die Freiheit» ein Obligatorium sein sollte? Oder ist womöglich der Schutz der Freiheit gemeint, ihre Verteidigung? – dies angesichts eines unbotmässigen Boten und buhlender Scheinbullen, unter deren Einfluss «die Aufständisch-Hymnischen» sich zusammentun! Die beiden letzten Verse parallelisieren einen begrifflichen Gegensatz («entschränkt, | grenzt»), dessen Funktion und Bedeutung ebenso uneinsichtig ist wie die Schlussfigur des «Gesinnten».
Solch «dunkle» Unbestimmtheiten finden sich in den meisten Gedichten von Paul Celan, und sie bewirken – ob gewollt oder ungewollt – den zwiespältigen (simultanen) Eindruck von Vieldeutigkeit und Bedeutungsleere. Dunkelheit, Unbestimmtheit dominieren, mehr oder minder ausgeprägt, sein gesamtes lyrisches Werk. Erreicht wird diese besondere Qualität, die sich bisweilen auch als künstlerische Schwäche offenbart, durch ein paar wenige, stetig wiederholte rhetorische und poetische Verfahren, von denen ich einige weiter oben bereits genannt habe. Wie Celan dabei vorgeht und welche Mittel er zusätzlich dafür nutzt, will ich hier anhand entsprechender Zitate aus seinen nachgelassenen Gedichten präzisieren und aufmerksam machen darauf, wie und wo angestrengter Tiefsinn zu unverbindlicher Beliebigkeit mutiert.
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Der Einsatz von Wortneuschöpfungen ist ein dominantes Charakteristikum von Celans dichterischem Personalstil und liesse sich denn auch durch unzählige einschlägige Beispiele dokumentieren. Mehrheitlich handelt es sich dabei um schwache Neologismen, d.h. um abgeleitete, umgebildete, verfremdete Begriffe von leicht erkennbarer Herkunft. Dazu gehören Eigenschaftswörter wie «heidekrautdunkel», «herzdunkel», «julifarben», «namenwüchsig», «unverschwiegen», «schwergemünzt», «befernt», «augenwandlerisch»; Hauptwörter und Namen wie «Siebenträne», «Nesselschrift», «Hauchschrift», «Seelentang», (die) «Seelenäugige», (der) «Kurzmütige», «Tausendstiege», «Eisfeuerschein», «Hirnwindungselle», «Strandhafergruss», «Lebensfinger», «Leuchtzahn», «Kunkeltaube» oder «Mautenjenseits» (für Mauthausen); Tätigkeitswörter wie «neinen», «entwalten», «vorbeiwienern», «erfürchten» (von Furcht oder Ehrfurcht), «gegenbildern», (sich) «hinweglügen», (sich) «herüberwerfen», (sich) «zuschlafen», (sich) «denkleben», (sich) «lebdenken».
Insgesamt haben diese und sehr viele andere Neubildungen bei Celan eine romantische oder märchenhafte Anmutung – sie erinnern an magische Zauberworte, lassen aber doch auch ihre Künstlichkeit und, zumindest teilweise, eine verquälte Geziertheit erkennen, die sich eher manieristisch denn magisch ausnimmt. So oder anders geht von ihnen keinerlei Verlockung aus, im Gegenteil, sie wirken – wie vom Autor gewollt – befremdlich, sogar abweisend. Dadurch bewähren sie sich nicht zuletzt als Komponenten der Sinnverdunkelung. Als dichterische Produkte sind sie ohne Belang.
Rekurrent sind bei Celan auch Quasi-Neologismen, Wörter also, die man für Neubildungen halten könnte, die sich aber bei näherem Hinsehen als spezifische Fachausdrücke erweisen. Ist «Kammwarze», ist «Wissererfortsatz» eine originäre Neubildung, oder hat der Dichter diese (wie manch andere) Begriffe aus wissenschaftlichen Texten übernommen, Begriffe wie «Augengneise», «Gekriech», «Schuttkriechen», «aussenbürtig», die weder in poetischen Texten, noch in der Gebrauchssprache vorkommen? Dass Celan immer wieder Fach- und Handbücher eingesehen hat, um derartige Ausdrücke zu eruieren und sie in seine Dichtung einzubringen, ist bekannt.
Am schwersten sind vermeintliche Neologismen aufzuklären, die Celan ohne Quellenangabe von andern Autoren übernimmt. Das Wort «zebragewandet» hat er nicht erfunden, sondern stillschweigend bei Jean Améry entliehen, der damit auf die gestreifte Häftlingskleidung im KZ verweist; die «Dampfhämmer» hat er von Walter Benjamin, die «gepulverten Organellen» von Isaac Asimov bezogen. Solch eigenmächtige, nicht ausgewiesene «Bezüge» gehören zur Normalität literarischen Schreibens, doch bei Celan werden sie in grossem Umfang stilbildend eingesetzt, stets im hermetischen Bestreben, die eigene Dichtung dem Verstehen (der Verständlichkeit) zu entziehen. Dies signalisiert er vorab schon durch eigens als Buchtitel kreierte befremdliche Neologismen wie «Sprachgitter», «Niemandsrose», «Lichtzwang», «Schneepart» u.a.
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Auch wenn Celans Verfremdungstechnik mehrheitlich durchschaubar ist, bleibt die Frage, wieso er sie zum unverwechselbaren Erkennungsmerkmal seiner Kunstsprache macht und damit jede direkte (authentische, faktische) Aussage absichtlich verunklärt. Dass er solche Verunklärung auch in kürzesten Gedichten zielstrebig durchsetzt, belegen exemplarisch die nachfolgenden Texte:
Lindenblättrige Ohnmacht, der
Hinaufgestürzten
klirrender
Halbpsalm.
Ohnmacht – «lindenblättrig»? Sturz – nach oben? Ein Psalm, der als «Halbpsalm» zum Klirren kommt? Jedes Wort hat hier Rätselcharakter, keins ist zu klären, soll wohl auch gar nicht geklärt, sondern in seiner Rätselhaftigkeit, also Vieldeutigkeit belassen werden. Denn auch uneinsichtige Gedichte sind – Gedichte; so wie dieses:
Kew Gardens
Jetzt, wo
du dich häufst, wieder,
in meinen Händen,
abwärts im Jahr,
löst die angestammelte Meise
sich auf in lauter
Blau.
Das lyrische Ich spricht hier ein namenloses Du an – an einem bestimmten Ort («Kew Gardens», botanischer Garten in London), zu einer bestimmten, objektiv allerdings nicht bestimmbaren Zeit («jetzt, wo | du dich häufst»). Noch eine Ortsbestimmung: «in meinen Händen», und noch eine Zeitbestimmung: «abwärts im Jahr», und doch bleibt alles unbestimmt – soll es auch, weil das Gedicht nur so einen imaginären, von der Wirklichkeit zwar hergeleiteten, von ihr aber dennoch abgehobenen Raum (Ort wie Zeit) eröffnen kann, in dem sich dann («in lauter | Blau») eine geheimnisvoll «angestammelte Meise» auflöst.
Was ist da was, und was bedeutet da was? Nein, da ist nichts, das etwas (Bestimmtes) bedeuten könnte – da ist nur dieses lakonische Gedicht, das Bedeutung verweigert und gleichzeitig Sinnbildung einfordert; und noch eins:
Das mückenbeinige Leben,
anagrammatisch zuhause
im Düsenfächer,
die
Gewissheit, hinzu-
geblasen, macht
beim eigenmächtigsten Tropfstein
fauchend Station.
Verstehen wollen, verstehen sollen, was rational nicht zu verstehen ist? Was dem Verstehen entzogen wird von einem Autor, der das Verstandenwerden für eine Schmach, eine Schwäche hält? Was einzig zu gelten hat, ist das, was als Gedicht dasteht, nicht das, was dahinter oder zwischen den Zeilen steht.
Das Gedicht ist bei Celan zu begreifen wie ein Ding, als ein Sprachding, das für sich selbst spricht, sobald und sofern es durch aufmerksame Lektüre zum Sprechen oder auch bloss zum Stammeln gebracht wird.
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Paul Celans Vertrauen in seine Leserschaft muss gross gewesen sein – lauter verlässliche, gutgläubige Gesprächspartner, die sich ohne Vorbehalte auf seine Gedichte einlassen und bestenfalls mit Fragen darauf antworten, Fragen nicht an den Autor, Fragen an sich selbst.
Um so bemerkenswerter ist die Tatsache, dass er auch in dunkelsten Texten häufig ein Du anspricht. Diese zweite Person (der Andere) wird nie beim Namen genannt, jedermann kann gemeint sein, möglich ist aber auch die Adressierung an eine reale Person, die anonym bleiben soll und für Aussenstehende nicht zu identifizieren ist, möglich sogar, dass der Dichter sich selbst zum Gesprächspartner macht und damit zum Gegenüber in einem monologisch geführten Dialog. In einzelnen Fällen kann auch ein Gegenstand, ein Wort, ein Abstraktum als Du angerufen werden.
Ich kenne dein Höher.
Ich höhere dich, Erkenntnis.
Sie brüllen dir Schlaf zu:
also
kommt Luft
durch die Garotte.
Ein Präfekt
steht sich Verordnungen ab,
ein Gott
Mitgötterisches,
aber einmal
sah Gleichkönigliches
Gratspur und Spurgrat.
Zwar wird ein Du in diesem Text nicht explizit adressiert, aber doch pronominal («dein», «dich», «dir») vergegenwärtigt. In der Subjektposition treten auf: «ich», «sie» (dritte Person Mehrzahl als anonymes Kollektiv), «Luft», «Präfekt», «Gott» und «Gleichkönigliches» – ausser der «Luft» ist nichts, niemand wirklich fassbar – ob «ich» oder «Gleichkönigliches» (oder was auch sonst), es bleibt der «Erkenntnis» entrückt, ungeachtet dessen, dass Celan gewisse Präzisierungen beibringt: die Luft kommt «durch die Garotte», der Präfekt «steht sich Verordnungen ab» (?), und Gleichgöttliches hat schon einmal «Gratspur und Spurgrat» gesehen … Doch zu genauerem Verständnis gelangt man dadurch nicht, eher umgekehrt – der hier jeweils angedeutete Kontext erhöht in jedem der Fälle die Verwirrung und beeinträchtigt mithin das Verständnis erst recht. «Gratspur» oder «Spurgrat»? Egal – das Wortspiel genügt sich selbst, Aussage und Bedeutung sind entbehrlich. Celan lässt das Gedicht verlauten, einzig im Sprachklang behauptet es sich.
Doch das Klingen und Verklingen setzt geeignetes Sprachmaterial voraus, sei es vorgegeben vom Wörterbuch oder eigens vom Autor ausgearbeitet in Form von innovativen bildstarken Metaphern sowie einer Vielzahl von alogischen, absurden, paradoxen Wendungen, die nichts direkt besagen, aber manches – Unterschiedliches, auch Widersprüchliches – andeuten sollen; Wortfügungen wie diese: «töpfernde Geilheit», «unter |Nadeln verzwergte | Verzweiflung», «hinauf | ins Vielleicht einer Sprache gespannt», «Namenwüchsige ober- | halb des Drahts | und Gekriechs und Geschiebes», «da stehst du, ein Stein, der | hat dich, wie er sich hat», «aber wer über die Linie | götzt, | den sperrt die Gewissenspranke | in seine Faust», «jetzt geht dem Gegoldeten einiges Nichts auf», «am Indifferenzpunkt| der Reflexion || sprach der Bitterplanet| Übergenaues», «Übermeister, | du unterst | nach oben», «und wie die Gewalt | entwaltet, um | zu wirken», «es kann auch sein, | dass sein kann», «aber, da’s allenthalb knechtet, | könige ich, | komm». Usf.
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Die Beispielreihe liesse sich beliebig fortsetzen – so gut wie jedes Gedicht von Celan hält derartige Wendungen bereit, manche bestehen ausschliesslich aus «lautenden» Strophen, die ebenso nichtssagend wie vieldeutig sind. Jedenfalls ist bei diesem Autor oft nicht auszumachen, ob er Tiefsinn oder Unsinn zum Besten gibt; so auch in diesem schwerlich fassbaren, dennoch unheimlich anmutenden Text aus der besonders produktiven Sommersaison 1968:
Dehngrenze: hier will der Schaffner
den Gelbstern sehn. Haut-Heute, seifig.
Doch kommt, kristallischer als
Gedächtnis,
der Trinkarzt. Schlürf ihn herunter.
Auch beginnen die Lärchen. In der
Staudamnis.
Mit Wassertinte
kümmern die scheinbaren Grüsse,
Französisch, ich sprach es so gut,
besserte endlich an sich.
Aber was wars denn als
Halbkleines? Es entfernte sich
nicht so weit,
dass es nah kam.
Zwar verweist der «Gelbstern» zu Beginn des Gedichts konkret auf die Judenverfolgung im Dritten Reich, doch mit keinem andern Wort wird dieser Bezug in der Folge bestätigt oder kontextualisiert, es sei denn, man bringe «seifig» (zu «Verseifung») und «kristallisch» (zu «Kristallnacht») mit dem militanten Antisemitismus des NS-Staates in Verbindung. Sonst aber ist hier von gänzlich andern Dingen die Rede – von einem «Trinkarzt», der «heruntergeschlürft» (?) werden soll, von Lärchen, die «auch beginnen» (?), von einer unbestimmten, unbestimmbaren «Staudammnis» (?), von «scheinbaren Grüssen», die «kümmern» (?), vom lyrischen Ich, das «so gut» Französisch sprach und das «besserte endlich an sich» (?), von einem «Haut-Heute» (?), das deutsch wie französisch («haut» für «hoch») zu lesen ist, schliesslich von einem «Halbkleinen» (?), das sich «nicht so weit» entfernte, «dass es nah kam». Wer sich hier um Verständnis bemüht, mag sich düpiert fühlen, könnte sich aber auch auf das Faszinosum geheimnisvoller Dunkelheit einlassen – beides ist bei der Celanlektüre gang und gäbe.
Der Doppelbegriff «Haut-Heute» steht für Paul Celans Vorliebe für die Assoziation lautähnlicher Ausdrücke, zu denen auch der Reim gehört. Solche Ausdrücke können inhaltliche Übereinstimmungen bekräftigen («die Einsamkeit sammelt») , sie können aber auch, bei Celan weit häufiger, Differenzen hervorheben («unbotmässig der Bote»).
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So oder anders beruht dieses assoziative Verfahren auf der magischen Vorstellung, wonach sprachliche Klangähnlichkeit stets eine geheime Bedeutungsverwandtschaft begründe oder eine solche wenigstens signalisiere. Celan nutzt diesen Effekt in Form unterschiedlichster An- und Gleichklänge, mit besonderer Berücksichtigung des Stab- und Binnenreims: «Geengelt | steht die Geschichte | zum geknechteten Knecht», «lötig, läutig», «gerheinigt, gereinigt» (von Rhein/rein), «ein Erbost und Getrost», «entdinglichte Welt, er- | fürchtet, erwirklicht», «Merzende … Entmerzte», «Keinerlei Kleinzeit | Komplize» (k-k-k, ei-ei-ei-ei), «zu einerlei, steinerlei | Freiheit» (erl-erl, ei-ei-ei), «bei den Radiär-Räten». Usf.
Keine der zahllosen Assonanzen bei Celan ist von und in der Sprache vorgeben, jede einzelne wurde synthetisch bewerkstelligt, ist ein Kunstprodukt und will dennoch irgendwie naturhaft sein, gleichsam ursprachlich. Selbst die triviale Reimpaarung Herz :: Schmerz setzt der sonst so innovationsfreudige Autor ein, um die lautliche Übereinstimmung der Begriffe als Beleg für die Übereinstimmung von «leben» und «leiden» auszuweisen. – Auch die Expressionisten, Futuristen, Dadaisten hatten sich dies zum Programm gemacht, freilich nicht in hermetischer Absicht, vielmehr zur Verblüffung und Provokation des Publikums. Celan wiederum tut es durchwegs im Dienst seiner individuellen Dichterrede, die er als Geheimrede mit unbekanntem Code inszeniert – sein Gedicht sagt, so könnte man meinen, indem es sich versagt; indem es dem unmittelbaren sprachlichen Ausdruck (dem Wort als solchem, als Klangereignis, als Wahrnehmungsdatum) Vorrang gibt vor jeder mitteilenden Aussage. Doch «Versagen» kann – als intransitives deutsches Verb – bekanntlich noch etwas anderes bedeuten: scheitern, ausfallen, nicht genügen u.a.m.
In Bezug auf Paul Celans Gesamtwerk sollte, von dieser Mehrfachbedeutung ausgehend, die Nachfrage erlaubt sein, ob und inwiefern seine Gesprächsverweigerung (bei gleichzeitig fortbestehendem Gesprächsangebot) als ein literarisches «Versagen» zu werten ist; die Frage also, ob der von ihm durchgängig so meisterlich praktizierte Hermetismus am Ende nicht doch nur Ausdruck eines Unwillens, sondern auch einer Unfähigkeit gewesen ist? Der Unfähigkeit nämlich, Erfahrenes, Erlittenes, Erkanntes adäquat zur Sprache zu bringen? Oder vielleicht der Unfähigkeit, darüber zu schweigen?
In einem seiner nachgelassenen Gedichte scheint er dies aus der Position eines Supervisors seiner selbst zu bestätigen: «… soviel rennt mich an | mit Gerede, | dass ich zuweilen spreche | wie einer, der redet, | dass ich zuweilen | spreche wie einer, | der schweigt.» Und ein Gleiches besagt ja auch sein Pseudonym (Celan – ein Silbenpalindrom seines Familiennamens Ančel), das durch lautliche Assoziation unverkennbar das lateinische «celare» evoziert, das Wort für «verheimlichen», «verbergen», «verhehlen»: Hier wird der Dichtername zur bedeutungsträchtigen Signatur – Geheimnis und Offenbarung zugleich.
2024-08-05