Felix Philipp Ingold: LyrikText

Wassilij Rosanow: Die Welt am Ende

Zugang

Zu wem soll hier Zugang gewonnen werden; und wozu? – Vorab Negatives, auch Ambivalentes und viel Widersprüchliches ist über Wassilij Rosanow und sein umfangreiches Werk geäussert worden, von Zeitgenossen ebenso wie von späteren Lesern. Feststeht allerdings, er war einer der produktivsten Denker und Literaten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Wöchentlich meldete er sich drei-, viermal in der Petersburger Presse, jährlich legte er zwei, drei Bücher vor, er führte eine umfangreiche Korrespondenz, nahm an öffentlichen Veranstaltungen teil, äusserte sich zu unterschiedlichsten politischen, kulturellen, sozialen, kirchlichen Tagesaktualitäten, war aber gleichzeitig auch ein hingebungsvoller Familienvater und Gastgeber, der Freunde wie Gegner gern bei sich zu Hause zum Essen, zum Debattieren einlud, um sich danach noch zum Lesen oder zur Arbeit an seiner Münzensammlung zurückzog usf. – ein Mann, der persönlich als ein angenehmer, aufmerksamer, umgänglicher, toleranter Zeitgenosse galt, gleichzeitig jedoch einen prekären Ruf hatte, schrieb er doch bedenkenlos für reaktionäre wie auch für revolutionäre Blätter, für akademische und literarische Zeitschriften, für bibliophile, religiöse, politische Sammelwerke. Seine multiple Autorschaft, für die er mehrere Dutzend Pseudonyme in Umlauf brachte, sollte für «jedermann» eine Stimme bereithalten, sollte alle möglichen, auch die unsinnigsten und empörendsten Meinungen zur Sprache bringen.

            Dass Rosanow seine eklatante Prinzipienlosigkeit zum Prinzip erhoben und unablässig sich selbst desavouiert habe, wurde und wird ihm immer wieder vorgeworfen. Schon zu Lebzeiten brachte sie ihm den üblen Vergleich mit dem zwiegesichtigen «Janus» oder dem käuflichen, verräterischen «Judas» ein. Heute würde – und sollte – man ihn wohl eher der überhandnehmenden Spezies der «Multioptionalisten» zuordnen: sein Denken umgriff die „ewigen“ Fragen von Leben und Tod, von Gut und Böse ebenso wie aktuelle Probleme der Politik (Autokratie und Revolution), der Erziehung (Reformpädagogik, Frauenemanzipation), der Gesellschaft (Ehe, Familie, Homosexualität, Alkoholismus, Suizid), der Kirche (Dogmatik, Priestertum, Sektierertum), der Kunst und Literatur. Ein Fach- oder Schulphilosoph wollte er (als studierter Historiker, Archäologe und Logiker) nicht sein, auch nicht ein universitär engagierter Wissenschaftler im damaligen Sinn und Geist des Positivismus: Nicht der „Philosophie“, vielmehr dem Philosophieren galt sein vorrangiges Interesse.

            Tatsächlich war Rosanow ein Autor von höchster Bildung und Intelligenz, der allerdings vor keinem Klischee, vor keinem Vorurteil, vor keiner Polemik ad personam, vor keiner geistigen Brandstiftung zurückschreckte und der all seine Widersprüche, Phantasien, Ahnungen, Träume, Zweifel, Verzweiflungen in skandalöser Offenheit auslebte und dafür auch öffentlich gerügt und verachtet wurde. Nach drei Jahrzehnten publizistischer Verausgabung starb er bald nach der bolschewistischen Revolution in materiellem Elend. Bis zuletzt hatte er an seinen ambitionierten Werken über „Die Apokalypse unserer Zeit“ und über „Orientalische Motive“ in der altägyptischen Kultur gearbeitet, konnte sie aber lediglich fragmentarisch und in kleinster Auflage zum Druck befördern.

        In der nachfolgenden Sowjetzeit blieb Rosanow während mehr als eines halben Jahrhunderts unpubliziert, in der Sekundärliteratur fand er, falls überhaupt, ausschliesslich negative Erwähnung und in staatlichen und institutionellen Bibliotheken wurden seine Bücher unter Verschluss gehalten. Während Jahrzehnten galten sie offiziell durchweg als «fortschrittsfeindlich», «nihilistisch», «prinzipienlos», «individualistisch» u.ä.m. – sie waren mithin Vorwürfen ausgesetzt, die Rosanow schon zu Lebzeiten hatte einstecken müssen, und dies gleichermassen von Seiten der politisch «progressiven» Intelligenz wie auch von «konservativen» Zeitgenossen oder führenden Vertretern der künstlerischen Moderne.

            Das desolate Fazit von Rosanows postumer Rezeption im Sowjetstaat mutierte mit der sogenannten Perestrojka und der Erneuerung der russischen Erinnerungskultur in sein Gegenteil: Sehr bald schon setzte die Rehabilitierung des ehemaligen Klassenfeinds machtvoll ein – in grosser Zahl erschienen seine Schriften nun in Einzel- und Sammelausgaben, diverse Archivpublikationen, Erinnerungswerke und Abhandlungen erweiterten den Zugang zu seinem ebenso eigensinnigen wie diffusen Denken. Nach der lang andauernden Kollektivierung und Begradigung des russischen Geisteslebens durch die sowjetische Kulturbürokratie war das Bedürfnis naturgemäss gross, sich auf Herausforderungen, Möglichkeiten, Vorbilder unabhängiger Intellektualität zu besinnen und sie in der eigenen vorrevolutionären Vergangenheit namhaft zu machen. Der Rückgriff auf Rosanow, den radikalsten Querdenker jener Zeit, erwies sich in dieser Hinsicht als besonders produktiv – kraft seiner Widersprüchlichkeit konnte er das Interesse der postmodernen «Westler» und der rasch erstarkenden «Patrioten» der neuen Rechten gleichermassen gewinnen.

            Als in den mittleren 1990er Jahren mit der Herausgabe einer ersten, auf dreissig Bände angelegten Werkedition begonnen wurde, nahm man überrascht zur Kenntnis, dass ein gewichtiger – womöglich der gewichtigste – Teil von Rosanows Texten (darunter die Aufzeichnungen aus den Weltkriegsjahren und die Schriften zur «Apokalypse unserer Zeit») in seinem Nachlass verblieben und somit für fast ein Jahrhundert der Forschung wie der Öffentlichkeit entzogen waren.

            Erst mit dem Abschluss dieser umfassenden (wohl noch immer nicht ganz vollständigen) Ausgabe der «Gesammelten Werke», 2010, ist Wassilij Rosanow als Autor adäquat erkennbar geworden und kann nun auch entsprechend gewürdigt werden. Sicherlich wird dies, angesichts des gewaltigen Textvolumens und dessen inhaltlicher Vielfalt, noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Allerdings hat die einschlägige Sekundärliteratur bereits heute eine kaum überschaubare Fülle erreicht, dies vorab im russischen Einzugsbereich, derweil der fulminante heimatliche Nachruhm des Autors in Europa und den USA eher zögerlich hochgehalten wird.

            Person und Werk sind im Fall Wassilij Rosanows gleichermassen schwer zu fassen. Die Person – wegen ihres exzentrischen, sarkastischen, oft unliebsamen Charakters; das Werk – wegen seiner ungewöhnlichen thematischen und stilistischen Reichweite, aber auch wegen seiner ständig wechselnden, vom Autor direkt angesprochenen Adressaten, zu denen Behörden und Institutionen aller Art ebenso gehören wie Privatpersonen, kirchliche Würdenträger oder politische Exponenten, Autoritäten der Wissenschaft und der Philosophie, Autoren der klassischen oder zeitgenössischen Literatur. Besonders gern wendet sich spricht Rosanow – in zumeist vertraulicher Intonation – an «Gott», «die Welt», «den Tod», an «Russland» und «die Russen» sowie, nicht zu vergessen, an sich selbst (als «du», «er») und an seinen Leser (stets in der Einzahl – als Individuum).

            Zwar haben bei Wassilij Rosanow die philosophischen Kardinalfragen nach dem Sinn des Lebens und Sterbens, nach dem Wesen der Liebe, der Geschichte, der Religionen und der Künste durchweg ihren Platz, doch mit stets gleichbleibender beharrlicher Aufmerksamkeit widmet er sich auch den «kleinen Dingen» der Alltagswelt, die er einmal als seine eigentlichen «Götter» bezeichnet hat. Am ehesten und am liebsten findet er seinen «Gott» im unscheinbaren, allgemein zugänglichen und erfahrbaren «Detail» – beim Beeren- oder Blumenpflücken, beim Teetrinken und beim Geschlechtsverkehr, bei seiner Münzensammlung, bei Droschken- oder Eisenbahnfahrten und immer wieder bei ganz gewöhnlichen sinnlichen Erfahrungen (Duft, Farbe, Haptik).

            «Alles und noch viel mehr!» – das scheint Rosanows Lebens- und Schaffensdevise gewesen zu sein, war aber wohl auch der Grund für seine ausgeprägte Skepsis gegenüber jedem (politischen, wissenschaftlichen, religiösen) Wahrheits- und Einheitsanspruch und, nicht zuletzt, gegenüber der Sprache mit ihrer inhärenten Tendenz zu verallgemeinernden Begriffs-, Norm-, Klischeebildungen. In ständigem Widerstreben dazu hat er eine hochdifferenzierte sprachliche und literarische Mehrstimmigkeit entwickelt, die von dialektaler Alltagsrede über journalistischen Jargon bis hin zum Gebet und zu lyrischer Metaphorik sämtliche Register aufbietet, um seine jeweiligen Denkbewegungen möglichst rasch und unverfälscht festzuhalten. Nichts soll dabei begradigt, geschönt oder gar «verewigt» werden, alles wird im Moment und für den Moment niedergeschrieben, um schon im nächsten Moment zu «verschweben» und durch etwas völlig anderes, vielleicht Unpassendes, Befremdliches, Gegenteiliges abgelöst zu werden. Von daher Rosanows permanente Polemik gegen «Gutenberg» und dessen gleichmacherische «Presse», von der die «Wahrheit» – in Bleisatz – für immer verfestigt und definitiv standardisiert werde.

            Von daher aber – naturgemäss – auch die Polemik, die Rosanow in seiner langjährigen Schaffenszeit selbst auf sich gezogen hat. Eine freilich verfehlte Polemik eben deshalb, weil bei ihm keine belangbare intellektuelle Position und Konsequenz auszumachen ist. Dem Entweder-oder hat er stets das Sowohl-als-auch vorgezogen: Er tat sich sowohl als grossrussischer Patriot hervor wie auch als Verächter Russlands und des russischen «Charakters»; als scharfer Kritiker des Christentums wie auch als Apologet christlicher Tugenden; als antisemitischer Eiferer wie auch als Bewunderer jüdischer Glaubensfreude und als gelehrter Kenner jüdischen Brauchtums; als Verteidiger der traditionellen Ehe und der patriarchalen Familie wie auch der Prostitution und aller Formen sexueller Perversität; als dezidierter Gegner revolutionärer Eingriffe in die Tradition und den Geschichtsverlauf wie auch als Befürworter individuellen Rebellentums; als Verächter aller «schönen» Literatur, die er grundsätzlich für wert- und nutzlos hielt, wie auch als produktiver Leser eines Homer oder Shakespeare, eines Puschkin oder Dostojewskij, die er allesamt – neben wenigen andern – durchaus zu schätzen wusste.

Die nachstehende Textauswahl ist vorrangig darauf angelegt, Wassilij Rosanows nomadisierende Denk- und Schreibbewegungen sowie die ganze thematische Horizontbreite seiner im weitesten Verständnis «literarischen» Schriften zu dokumentieren. Damit soll eine Lektüre ermöglicht und angeregt werden, die den Autor in seiner staunenswerten Singularität fassbar macht, mithin auch in seiner verwirrlichen Komplexität, die darin begründet ist, dass er seinen unverwechselbaren Charakter durch Charakterlosigkeit gewinnt und dass seine Formkunst durch Improvisation, sein Denken durch Assoziation, seine «Wahrheit» durch unentwegtes Fragen und Lügen, Behaupten und Widersprechen bestimmt sind. Einzig in dieser Zerstreuung kann Rosanow – und mit ihm sein Werk – adäquat und zur Gänze begriffen werden.

 

Romainmôtier/Zürich                                                                 Felix Philipp Ingold


Der Text bezieht sich auf:

Wassilij Rosanow: Die Welt am Ende
Ausgewählte Schriften
Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Felix Philipp Ingold
Karolinger Verlag, 02/2021, 598 Seiten, ISBN-13: 9783854181996
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