Felix Philipp Ingold: LyrikText

Das Russische kennt keinen Artikel, weder den bestimmten noch den unbestimmten. Nur der Kontext, in dem ein Wort vorkommt, oder die Intonation, mit der es gesprochen wird, ermöglicht die Unterscheidung zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit.


Demgegenüber hat das Deutsche drei Möglichkeiten, diese Kategorien zur Geltung zu bringen, nämlich – zum Beispiel – „Haus“ (ohne Artikel, also wie im Russischen üblich), „das Haus“ (bestimmt), „ein Haus“ (unbestimmt). Die sprachliche Differenzierung des Gemeinten ist hier leicht zu bewerkstelligen, der Sprecher muss bloß wissen, was er sagen, was er zu verstehen geben will; das Deutsche hält dafür die Register bereit.
Die Wahl des jeweiligen Registers ist so unproblematisch nicht. Das zeigt sich des Öfteren bei Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche. Wo die russische Sprache lediglich eine neutrale Ausdrucksweise bereit hält, stehen im Deutschen jeweils die drei genannten Varianten zur Verfügung, die bedeutungsmäßig und auch stilistisch erheblich voneinander abweichen, sich sogar widersprechen können.


Das lässt sich, wiederum beispielshalber, belegen durch zwei lapidare Werktitel von Osip Mandel’štam, Kamen’ („Stein“) und Putešestvie v Armeniju („Reise nach Armenien“). Der Übersetzer R. D., als Herausgeber einer mehrbändigen Mandel’štam-Edition viel gelobt und kaum geprüft, verwendet im Deutschen beide Male den bestimmten Artikel – „Der Stein“, „Die Reise nach Armenien“). Beides ist gleichermaßen verfehlt. „Der“ Stein kann in der Tat nur einen bestimmten (diesen, jenen) Stein bedeuten, ist aber bei Mandel’štam gerade nicht in solcher Vereinzelung und Spezifik zu verstehen, sondern allgemein als Benennung für „Stein“ als feste, schwere, stützende, auch formbare Materie – Stein steht hier für die statische, künstlich beziehungsweise künstlerisch geschaffene Gestalt der Kathedrale, der Pyramide, der Stadt (vorab Petersburgs), auf metaphorischer Ebene aber auch für den aus Wörtern gefügten Satz, für das aus Versen und Strophen gefügte Gedicht.


Vertretbar ist im Deutschen einzig die neutrale Titelfassung ohne Artikel: „Stein“.
Das gilt ebenso für „Reise nach Armenien“. „Die Reise ...“ würde den Einzugsbereich von Mandel’štams später Prosastudie einengen auf jene datierbare und rekonstruierbare Reise, die der Autor 1930 unternommen hat, die jedoch nur den Anlass, nicht den Inhalt des Texts ausmacht. „Die Reise ...“ – in der Bedeutung von diese (eine) Reise – wäre allenfalls korrekt als Titel für einen diskursiven Reisebericht, eine Reportage, ein Erinnerungsstück. Bei Mandel’štam geht es indes keineswegs um die zeitgenössische armenische Sowjetrepublik, Armenien ist vielmehr, ganz allgemein, Kulisse und Stellvertretung für eine andere (als die russische) Welt, Armenien, so begriffen, lässt sich gerade nicht bereisen, Armenien wird hier für einen Bedrohten, Gejagten, Verbannten zum Wunderland, zu einem „mediterranen“ Kulturraum, zu einem grandiosen biblischen Idyll.


„Die Reise ...“ kann in dieses Traumland nicht führen, ihr Ziel hätte damals einzig Sowjetarmenien sein können, die völlig gleichgeschaltete, kulturell und religiös verödete Republik im Kaukasus. Der bestimmte Artikel ist in diesem Fall gewiss die schlechteste Wahl. „Eine Reise ...“ wäre als Titel allenfalls tolerierbar, der Intention des Autors vermag aber nur die artikellose Fassung zu entsprechen: „Reise nach Armenien“. Es ist zu bedauern, dass die beiden zentralen Werke Osip Mandel’štams – das eine in Versen, das andere in Prosa – hierzulande nun wohl für lange Zeit unter falschen Titeln in Umlauf bleiben werden. Von den Texten selbst nicht zu reden.

Uri. - Fürst und Idiot
im Stau. Zurück nach Russland. Nach Hause. Zurück. Eine
Urszene auch.

Tolstoj. - „Sie wissen ja
dass ich Shakespeare nicht ausstehen kann. Aber
meine Stücke sind noch mieser.“

Hale-Bopp. - Erstmals im Leben
den Kopf gehoben. Dort der Komet. Und
nicht kein Wunsch. So ungeheuer oben nicht.

Kozovoj. - „Wer ist der Wahrheit
näher? Dieser Frosch oder jener
Telegraphenmast?“

Osterweiterung. - Reibt Ich sich die Augen. Au! gen Ostern
geht's auf. Duftet
wie nichts.