Felix Philipp Ingold: LyrikText

Wenn grosse Dichtwerke bis ans Ende der Dichtkunst immer „etwas bedeuten“, dann deshalb, weil sie immer wieder etwas anderes bedeuten und weil dieses immer wieder Andere das ist, was der Leser an Sinn, will sagen an „Eigensinn“ hinzufügt oder dem Text entgegenhält. Schreibend finde ich nur Wörter vor; deren Fügung ist’s, was den Text ausmacht, das Werk. Jedweder Teil des Gedichts, jedes Element hat keine Bedeutung, und zugleich hat es alle Bedeutung, nämlich den Sinn, den es im Akt des Lesens (Gelesenwerdens) stets von neuem gewinnt. Mehr als die Bedeutung, und das gilt wohl immer, sagt die Stimme. Völlig blöd und stinknormal ist der, der zu verstehen glaubt, ohne das Verstandene im Akt des Verstehens hervorgebracht zu haben. Warum hat man die Rede der Irren einstmals für orakelhaft gehalten? Gegen Bedeutung liesse sich sagen, dass Sinn auch dort entstehen kann, wo einer nicht weiss, was er sagt, und selbst dort, wo er nichts zu sagen weiß.