Felix Philipp Ingold: LyrikText

Wenn Spaemann in seiner Apologie des christlichen Monotheismus den Anfang von allem nicht in einem Event, sondern in jemandem - Gott - beschlossen sieht, müsste der Anfang von allem ein Autor gewesen sein und nicht jenes Wort, das nach der Schrift „im Anfang“ war. Das klingt ganz plausibel, aber doch auch recht uninteressant. Dass der Autor vor dem Wort kommt, dass Gott schon vor der Schöpfung war, scheint logisch zu sein, weil es chronologisch nachvollziehbar ist und im Übrigen dem allgemeinen Verständnis von Kreativität entspricht. Demnach wäre der Autor - ob Gott oder Dichter – der, welcher etwas aus nichts schafft, der, dem das Werk – oder die Welt – zuzuschreiben, vielleicht anzulasten ist.

Logisch wäre aber auch die Überlegung, dass aus nichts nicht etwas geschaffen werden kann; dass schon immer etwas da sein muss, damit Anderes, Neues entsteht. Diese Überlegung wäre auch durch die ursprüngliche Wortbedeutung von Autor, lateinisch auctor, gedeckt, der nicht als Schöpfer, sondern als Mehrer (von augere) ausgewiesen wird. Kreativität, so verstanden, schafft nicht neu, sie schafft Mehrwert, sie entdeckt, sie erfindet Vorhandenes, ist also eher eine Suchbewegung denn ein Schöpfungsakt.
Im Kunst-, im Literaturbetrieb hat bis heute jener Autor Vorrang, der sich als Urheber und Rechthaber zu erkennen gibt; der für sein Werk Erst- und Einmaligkeit beansprucht; der einzig aus seiner Erfahrung, seinem Können, seinem Stoff zu schöpfen scheint. Wohingegen der (nach dem Vorbild des mittelalterlichen Skribenten) sich selbst entmächtigende Autor, der lediglich nach- und weiterschreibt, vom breiteren Publikum übersehen oder gar missachtet wird.
Mit Anna Achmatovas gewaltigem Ruhm kontrastiert ihre dürftige Poetik, die sich wie eine einzige Bescheidenheitsformel ausnimmt. Es komme darauf an, Vorgegebenes nachzuschreiben, hinzuhören auf das permanente Murmeln – das vage Diktat – der Texte. „Wenn keiner diktiert“, sagte sie einst im Gespräch, „ist es ganz einfach unmöglich zu schreiben.“ Doch die Bescheidenheit hat sie nicht davor bewahrt, als Dichterfürstin verehrt zu werden; erstaunlicherweise hat sie den Kult um ihre Person klaglos zugelassen – vermutlich wusste sie, dass er nicht abzuweisen war, wusste, dass das Publikum den Autor als Autorität sehen und verehren will.
Es ist schon bemerkenswert, wenn jemand wie die Achmatova, die von Taxifahrern, Grundschullehrerinnen und Jungdichtern gleichermassen als „unsere Königin“ belobigt wurde, unentwegt betont, sie habe nichts anderes zu sagen als das, was geschrieben stehe und zu lesen sei.
In solchem Verständnis haben sich, weithin unbemerkt, auch zahlreiche andere Autoren der europäischen Moderne geäußert. Edmond Jabès resümiert all jene Stimmen – von Blok und Valéry und Benn bis in die Gegenwart – in dem schlichten Satz, wonach dichterisches Schreiben nichts anderes sei als die intensivste Art zu lesen.