Felix Philipp Ingold: LyrikText

NZZ, 29.04.2014


Vladimir Nabokov doziert über russische Literatur

Bis zum bitteren Ende

In erweiterter Nachübersetzung liegen seit kurzem Vladimir Nabokovs «Vorlesungen über russische Literatur» vor, die bereits 1984 unter dem Titel «Die Kunst des Lesens» auf Deutsch erschienen und damals mit viel Lob bedacht worden sind. Die Neuausgabe ist um ein gutes Drittel umfangreicher als der Erstdruck, was auf vier zusätzlich eingebrachte Texte (einen über Nikolai Gogol, drei über Michail Lermontow), aber auch auf Ergänzungen im Kommentarteil zurückzuführen ist.

Ab 1941 hat Vladimir Nabokov während annähernd zwanzig Jahren als Vortragsreisender und Hochschuldozent an zahlreichen Orten in den USA über europäische, vorab russische Erzählliteratur referiert. Da sein Publikum mehrheitlich aus Laien und Studienanfängern ohne belastbare Vorkenntnisse bestand, musste er sich auf elementare Stoffvermittlung beschränken, das heisst auf Angaben zu Leben und Schaffen der vorgestellten Autoren sowie auf Inhaltsangaben zu deren kanonisierten «Meisterwerken». Tiefer gründende Analysen und Ausdeutungen waren unter solchen Voraussetzungen weder möglich noch angebracht. Nabokov hat seinen Brotberuf offenkundig mit weit mehr Jux und Satire ausgeübt als mit didaktischem Interesse, er selbst soll die Vortragsskripte als «chaotisch und schlampig» bezeichnet haben und wollte sie jedenfalls nicht publiziert sehen. Doch bei einem Autor seines Formats wird gemeinhin angenommen, wenn nicht erwartet, dass auch in marginalen Texten genialische Einsprengsel zu finden sein müssten.

Krasse Fehlurteile

Um es vorwegzunehmen: Die «Vorlesungen über russische Literatur» bieten kaum etwas, das nicht auch in einem literarischen Handbuch nachzulesen wäre. «Originell» ist Nabokov bestenfalls dann, wenn er in beiläufigen Nebenbemerkungen etwa feststellt (oder einfach behauptet), Lermontow habe als erster russischer Dichter das Wort «violett» verwendet, oder bei Balzac, bei Sartre habe man es mit mediokren «Journalisten» zu tun. So weit, so gut. Doch zu besserem Verständnis der russischen Erzählkunst verhelfen solche Trivia nicht.

Als Dozent beschränkt sich Nabokov im Wesentlichen darauf, die Lebensumstände der von ihm vorgestellten russischen Klassiker – Gogol, Lermontow, Turgenjew, Dostojewski, Tolstoi, Tschechow, Gorki – kurz zu skizzieren, um danach das eine oder andere Werk nachzuerzählen und ausgiebig daraus vorzulesen. Mit insgesamt fünf Romanen ist Fjodor Dostojewski in den «Vorlesungen» am stärksten vertreten, obwohl Nabokov lediglich einen sentimentalen, schusseligen, religiös und politisch fanatisierten Schreiberling in ihm zu erkennen vermag. Doch ex negativo gewinnt der Kritiker seine polemische Energie, und diese verleitet ihn nicht nur zu krassen Fehlurteilen, sondern auch zu gravierenden Irrtümern, etwa dort, wo er Dostojewski vorwirft, das Leiden als einzigen Ursprung des Bewusstseins herauszustellen, wiewohl dieser, gerade umgekehrt, das Bewusstsein inklusive Vernunft und Erkenntnis als Ursprung allen menschlichen Leids ergründet hat.

Im Übrigen dominieren bei Nabokov apodiktische, oft zynisch klingende Sentenzen, wo man – zumal als uneingeweihter Leser – mit Fakten und Argumenten besser bedient wäre. Den anonymen Ich-Erzähler aus Dostojewskis «Aufzeichnungen aus dem Untergrund», den wohl schärfsten Denker, den der russische Roman hervorgebracht hat, identifiziert Nabokov kurzerhand mit dem Autor und bezeichnet ihn (in Anlehnung an Batman) verächtlich als einen «Maus-Mann», der mit der «spiesserhaften Eloquenz eines Volksredners» ausschliesslich Unsinn von sich gebe. Tatsache ist, dass Dostojewskis namenloser Antiheld manche Positionen der modernen Existenzphilosophie und der Philosophie des Absurden vorgeprägt hat – für Nietzsche, Bataille, Camus und selbst für Einstein wurde er zu einem wichtigen Impulsgeber.

Schulmeisterlich und widersprüchlich

Doch letztlich ist Nabokov, ob seine Lektüre nun negativ oder positiv ausfällt, an «Ideen» ohnehin nicht interessiert. Für ihn ist Erzählkunst vor allen Dingen Stil- und Beschreibungskunst, die sich weit mehr an Wahrnehmungen denn an Wahrheiten orientiert. Unter diesem Gesichtspunkt weiss er Iwan Turgenjew und Anton Tschechow besonders hoch zu schätzen, doch auch bei Gogol, Lermontow und Tolstoi fragt er nicht nach Aussage und Bedeutung, sondern nach der «Art und Weise», wie sie Gegenstände und Gesten, Menschen und Landschaften zur Darstellung bringen – wie (und in erster Linie wie exakt) die Beschreibungen ausgeführt sind. Selbst bei seinen Lieblingsautoren spart Nabokov diesbezüglich nicht mit schulmeisterlicher Kritik, oft kann er auch bei ihnen bloss die Bemühung, nicht aber das Gelingen loben.

Anderseits ist man erstaunt, wenn der vielgeschmähte Fjodor Dostojewski von Nabokov unversehens als «exzellenter» Humorist und Stilist gewürdigt wird, und doppelt erstaunt, wenn man die mehrseitigen Textauszüge zur Kenntnis nimmt, die das Lob bestätigen sollen – es sind die wohl schwächsten Seiten eines im übrigen gewaltigen Erzählwerks, und man fragt sich schon, ob und inwieweit der unfreiwillige Dozent sein eigenes Werturteil und die Urteilsfähigkeit seines Publikums überhaupt ernst nimmt. Die Frage drängt sich umso mehr auf, als Nabokov dem Verfasser der «Dämonen» und der «Brüder Karamasow» in seinen Vorlesungen so viel Platz einräumt, derweil andere Autoren, die ihm sicherlich näherstehen – etwa Nikolai Lesskow, Iwan Gontscharow, Wsewolod Garschin –, völlig ausser acht bleiben.

Man halte es mit Vladimir Nabokovs Vorlesungen so, wie er's seinen Hörern für die Dostojewski-Lektüre empfohlen hat: «Bitte lesen Sie trotzdem bis zum bitteren Ende weiter. Vielleicht gefällt es einigen von Ihnen besser als mir.»


Vladimir Nabokov: Vorlesungen über russische Literatur. Herausgegeben von Fredson Bowers und Dieter E. Zimmer. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer. Rowohlt-Verlag, Reinbek 2013. 747 S., Fr. 50.90.